Nur die Liebe bleibt
letztem Abend in der Goethestraße. »Ich habe die Hälfte meines Berufslebens damit zugebracht, nach dem Grund zu forschen. Nun ist es allerdings für mich selbst und für die Menschen, denen ich zu helfen versuche, Gold wert zu wissen, in welchen Zügen man sich nicht wie ein Eierdieb umzugucken braucht und wo man vielleicht nicht mehr Gespenster zu sehen bekommt, als der Mensch ertragen kann.«
»Und bedankt euch noch einmal bei Heini«, sagte Walter, als ihm noch genau sechzehn Minuten und dreißig Sekunden in Breslau blieben. »Ohne ihn hätte ich wirklich ganz schön alt ausgesehen. Sagt ihm, ich wünsche ihm von Herzen alles Gute, und gib ihm einen Tritt von mir. Er soll endlich an sich denken. Und ihr, ihr solltet jetzt wirklich gehen.«
Es kostete Walter Mühe, sich nicht sein Verlangen anmerken zu lassen, niemandem mehr Antwort geben zu müssen, keinen mehr zu trösten. Wenn ihm die Familie die letzten Minuten von seinem Schmerz erließ, brauchte er sich nicht zu zwingen, der Mann zu sein, der er nicht mehr war. Dann würde die Zeit reichen, um noch einmal auf den Bahnhofsvorplatz zu gehen und den Türmen und Bögen Lebewohl zu sagen. Und den Träumen der Jugend. Sollte Gott ihn erhört haben, würde er den Breslauer Hauptbahnhof ja nie wieder sehen.
Mit neunzehn Jahren war er das erste Mal nach Breslau gekommen. Er hatte es gar nicht abwarten können, die Universität zu sehen und sich zu immatrikulieren. Nun war er dreiunddreißig und gebrochen, ein Mann ohne Zukunft und bald auch ohne Sprache.
»Warum?«, fragte Regina, »warum sollen wir gehen? Das Baby darf doch auch bleiben?«
»Das fährt ja auch mit.«
»Ich kann doch nichts dafür, dass ich nicht mitfahren darf. Ich will ja.«
Wenn sie nörgelte, fiel Walter auf, hatte sie das gleiche Gesicht wie ihre Mutter. Und die gleiche Stimme. Er musste sich zusammennehmen, um nicht zu lächeln. Auch Abschiede hatten ihre Gebote und Rituale. Wer wegfuhr, musste alles erklären, selbst ein Lächeln. Wahrscheinlich hatte auch Penelope Odysseus gefragt, weshalb er lächelte. »Der hatte wenigstens allen Grund dazu«, sagte Walter.
»Wer?«, fragte Jettel.
»Wer?«, plapperte Regina nach. Wieder die gleiche Tonlage wie Jettel, die gleiche Mimik. Sie sah so ernst aus, als könnte sie verstehen, was geschah.
In den letzten sechs Monaten, seit dem Abschied von dem Apfelbaum im großen Garten, von Anna, dem geliebten Kindermädchen, und von Leobschütz, wo sie geboren worden war und sämtliche Straßen um den Asternweg herum kannte, hatte sich Regina ebenso sehr verändert wie die äußeren Lebensumstände ihrer Eltern. Sie fragte nur noch selten nach den Dingen, die fünfjährige Kinder, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen, sonst wissen wollen. Regina schaute nicht nach Sonne, Mond und Sternen, sie träumte nicht von Märchenprinzessinnen und fürchtete sich nicht vor Hexen, die es auf brave Kinder abgesehen haben. Regina, herausgerissen aus einer gleichmäßig temperierten Welt von Liebe und Geborgenheit, begehrte allzeit Auskunft über die neue Wirklichkeit. Unter gewöhnlichen Umständen hätte es die Familie entzückt, wie verständig und vernünftig das Kind geworden war. In der gegenwärtigen Situation indes waren Reginas schnelle Auffassungsgabe und ihre Wissbegier eine Belastung. Eine Frage zur falschen Zeit und am falschen Ort konnte lebensgefährlich werden.
Unbestimmte Andeutungen und bewusste Umschreibungen, um Geschehnisse und Vorhaben zu verschleiern, von denen außerhalb der großmütterlichen Wohnung niemand etwas wissen durfte, genügten oft nicht, um die Fünfjährige zu täuschen. »Sie hört das Gras wachsen«, sagte ihre Großmutter.
»Wenn du mich fragst, dann sät sie es«, seufzte ihr Vater. Regina war, weil ohne Geschwister und kaum mit gleichaltrigen Kindern aufgewachsen, immer altklug gewesen. Seit dem Umzug von Leobschütz nach Breslau war sie hellhörig geworden - und bedrohend neugierig. Sie hatte einen früh ausgeprägten Instinkt für die Stimmungen und Ängste der Erwachsenen, dazu ein außergewöhnliches Gedächtnis für Einzelheiten, von denen ihre Eltern den Himmel anflehten, sie würde sie entweder nicht mitbekommen haben oder auf der Stelle vergessen. Das geschah jedoch schon deswegen nicht, weil Regina es nie leid wurde, sich die Gespräche der Erwachsenen anzuhören.
Aus Angst, sie würde beim Einkaufen, bei Spaziergängen im Park oder vor den Nachbarn im Hausflur Zukunftspläne ausplappern oder Gespräche
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