Nur einen Kuss, Kate!
aber zu hinterlassen, 'was sich am Tag meines Todes in meinen Taschen findet'! Nicht zu fassen! Es war purer Zufall, dass er nach einer Nacht am Kartentisch bei White's starb. Wäre ihm beim Spiel nicht das Eigentumsrecht an Sevenoakes zugefallen, hätte der arme Junge nicht einmal ein Dach über dem Kopf!”
Lady Cahill ließ ein entrüstetes Schnauben hören. Gewiss, Jack hatte ein paar harte Schläge hinnehmen müssen, doch durfte man nicht zulassen, dass er düster über seinem Los brütete. Er brauchte etwas, das ihn aus dieser Grübelei herausriss.
Ein leises Klopfen ertönte. “Was ist, Fitcher?”, rief die alte Dame ungeduldig.
“Verzeihung, Mylady.” Der Butler verbeugte sich. “Eben wurde dieser Brief abgegeben.” Er überreichte ihr auf einem Silbertablett einen Umschlag.
Lady Cahill griff danach. Die unleserliche Handschrift ließ sie verächtlich die Nase rümpfen. “Hm, nicht mal frankiert.”
Sie erbrach das Siegel und fing zu lesen an, wobei sie ungehalten vor sich hin murmelte. Schließlich warf sie das Schreiben ungeduldig fort.
“Was ist denn, Großmama?”
“Ich kann nichts entziffern. Die Handschrift ist unleserlich, die Rechtschreibung erbärmlich. Wirf den Brief ins Feuer, Mädchen!”
Amelia bückte sich nach dem Schreiben und strich es glatt. “Soll ich es versuchen?” Das Schweigen ihrer Großmutter als Zustimmung deutend, las sie den Text langsam und immer wieder stockend vor:
“Mylady, entschuldigen Sie, dass ich an Sie schreibe, aber ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll …”
“Ein Bettelbrief!”, stieß die Dowager Countess aufgebracht hervor.
“Ich glaube nicht, Großmama”, sagte Amelia, die weitergelesen hatte. “Lass mich fortfahren: …
denn mein armes Mädchen steht nun mutterseelenallein ohne Anverwandte da, und es ist eine wahre Schande, dass die Tochter vornehmer Leute nun Dienstmädchen spielen soll, um sich über Wasser zu halten …”
Lady Cahills Augen blitzten zornig. “Da versucht jemand, uns einen außerehelichen Sprössling deines Vaters aufzuhalsen!”
“Großmama!” Amelia errötete verlegen.
“Ach, tu doch nicht so. Sicher weißt du, dass dein Vater nach dem Ableben deiner lieben Mutter etliche Affären hatte. Wirf diese Unverschämtheit sofort ins Feuer!”
Doch ihre Enkelin las eifrig weiter.
“Als frühere Kinderfrau der Tochter des Pfarrherrn fällt es nun mir zu, Ihnen mitzuteilen, was aus meinem Mädchen wurde, da Sie die Taufpatin von Miss Maria, ihrer armen Mutter, waren …”
Lady Cahill richtete sich gespannt auf.
“… deren einziges überlebendes Kind sich nun in fremden Diensten durchschlagen muss. Deshalb bitte ich Mylady, Miss Kate zu helfen, da Sie die Einzige sind, die es kann. Immer Ihre Martha Betts.”
“Kennst du diese Leute, Großmama?”, fragte Amelia neugierig.
“Ich glaube schon”, sagte ihre Großmutter bedächtig und griff nach dem Schreiben, um es zu überfliegen. “Das Mädchen muss das Kind meiner Patentochter Maria Delacombe sein. Maria ehelichte den Geistlichen Farleigh und starb bei der Geburt einer Tochter. Das liegt nun zwanzig Jahre zurück. Nach ihrem Tod riss die Verbindung zu der Familie ab.”
Sie warf einen Blick auf die Adresse. “Bedfordshire? Hm … keine Angehörigen? Was mag aus dem Vater und den Brüdern des Mädchens geworden sein?” Lady Cahill runzelte die Stirn.
“Was gedenkst du zu tun, Großmama?”
Lady Cahill betätigte den Klingelzug und ließ sich Sherry und Backwerk bringen.
Als Amelias Gemahl erschien, ging man zu Tisch, und Lady Cahill verkündete bei der Suppe ihren Entschluss.
“Großmama, bist du sicher?” Amelia schien besorgt. “Die Fahrt dauert sehr lange. Was ist, wenn Jack auch dich nicht empfängt?”
Lady Cahill bedachte ihre Enkelin mit einem verächtlichen Blick. “Mach dich nicht lächerlich, Amelia! Noch nie im Leben wurde mir irgendwo der Zutritt verwehrt. Ich bin eine geborene Montford, und niemand, auch nicht mein Lieblingsenkel, macht mir Vorschriften.”
Sie führte eine Damastserviette an den Mund und goss ihren Sherry in die Suppe. “Fades Zeug!”
Als sie einen Gang später in ihren
cailles à la Turque
herumstocherte, sagte sie: “Auf dem Weg zu Jack werde ich Maria Farleighs Tochter aufsuchen. Ich kann sie nicht verhungern lassen, ebenso wenig wie ich zulassen kann, dass sie sich als Dienstbote verdingt! Marias Mutter würde sich im Grab umdrehen. Sie war unvernünftig, als sie zuließ, dass ihre Tochter
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