Nur einen Kuss, Kate!
deswegen offen, dass du meine Hilfe brauchst.”
Kates graugrüne Augen blitzten, doch sie sagte ruhig: “Wieso glauben Sie das?”
“Sei nicht töricht, Mädchen. Mir ist klar, dass du keinen Penny mehr besitzt. Du trägst ein Kleid, das ich meinem Hausmädchen nicht einmal als Staubtuch zumuten würde. Das Haus lässt allen Komfort vermissen, du kannst mir keine Erfrischung anbieten – nein, setz dich, Mädchen!”
Kate war mit flammenden Augen aufgesprungen. “Ich danke für Ihren Besuch, Lady Cahill, und möchte nichts mehr hören. Sie haben kein Recht auf mich, auch kein Recht, in mein Haus einzudringen und so beleidigend mit mir zu reden. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie gingen!”
“Setz dich, sage ich!” Die alte Dame sagte es befehlsgewohnt und mit zornig funkelnden Augen. Sekundenlang starrten die beiden einander an. Dann setzte Kate sich langsam. Sie bebte vor Wut.
“Der Anstand gebietet es, dass ich mir anhöre, was Sie zu sagen haben, Lady Cahill, und da Sie nicht gehen wollen, muss ich Ihre Anwesenheit ertragen, zumal es sich für ein Mädchen meines Alters nicht ziemt, eine um so viel ältere Person hinauszuwerfen.”
Ihre Besucherin erwiderte den zornigen Blick, dann aber brach sie zu Kates Verwunderung in Gelächter aus und lachte, bis ihr die Tränen über das faltige, sorgfältig geschminkte Gesicht liefen.
“Ach, meine Liebe, du hast nicht nur die Augen deiner Mutter, sondern auch ihr Temperament geerbt.” Lady Cahill suchte in ihrem Ridikül und fand ein zartes spitzenbesetztes Tüchlein, mit dem sie, noch immer lachend, ihre Tränen trocknete.
Ihre Wut ließ nach, doch Kate sah die Besucherin noch immer mit steinerner Miene an. Kate hasste ihre Augen, da sie denen ihrer Mutter glichen und ihr Vater durch sie ständig daran erinnert worden war, dass seine geliebte Frau bei der Geburt der Tochter den Tod gefunden hatte.
“Nun, mein Kind, sei nicht so stur und dumm”, setzte Lady Cahill an. “Ich weiß, wie es um dich steht.”
“Woher?”
“Ich erhielt ein Schreiben von Martha Betts, in dem sie mir mitteilte, dass du verwaist und mittellos bist.”
Kate ballte die Hände zu Fäusten und reckte stolz ihr Kinn. “Madam, man hat Sie falsch informiert. Martha meint es gut, aber sie weiß nicht Bescheid.”
Lady Cahill beäugte sie gewitzt. “Dann bist du nicht verwaist, mittellos und ohne Perspektive?”
“Ich bin Waise, da mein Vater vor einigen Monaten starb. Meine zwei Brüder kamen etwa um dieselbe Zeit ums Leben.” Kate wandte den Blick ab und zwinkerte heftig gegen ihre Tränen an.
“Mein Beileid, Kind.” Lady Cahill beugte sich vor und tätschelte sanft Kates Knie.
Kate nickte. “Aber ich bin nicht ohne Perspektive.”
“Das glaube ich nicht”, antwortete Lady Cahill leise. “Ich möchte gern mehr über deine Lebensumstände wissen.”
Kate blickte auf. “Mit welchem Recht mischen Sie sich in meine Privatangelegenheiten?”
“Mit dem Recht eines Versprechens, das ich deiner Mutter gab.”
Kate hielt inne. Ihre Mutter, der sie das Leben geraubt hatte. Die Mutter, die das Herz ihres Mannes mit ins Grab genommen hatte. Einen Augenblick lang sah es aus, als wolle Kate sich auf eine Debatte einlassen, dann neigte sie den Kopf in widerstrebender Zustimmung. “Dann muss ich es wohl hinnehmen.”
“Sehr liebenswürdig von dir”, bemerkte Lady Cahill trocken.
“Lady Cahill, es ist wirklich nicht Ihre Angelegenheit. Ich komme sehr gut allein zurecht.”
“Pah!”
“Jawohl, ich …”
“Beruhige dich, Kind!”, sagte Lady Cahill. “Ich bin eine alte Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt, und in meinem Alter hat man sich daran gewöhnt, seinen Willen durchzusetzen. Kind, benutze deinen Verstand. Sich bei einer Mrs. Midgely als Dienstmädchen zu verdingen ist für die Tochter Maria Farleighs unpassend! Es bleibt dir nichts übrig, als mit mir zu kommen und bei mir zu leben.”
Sie sollte bei einer vornehmen alten Dame leben und auf Bälle, Maskenfeste und in die Oper ausgeführt werden? Es war ein Leben, von dem Kate lange geträumt hatte … die Kate von früher.
Für die neue Kate war es ein Albtraum.
Das Angebot kam zu spät, eine schmerzliche Ironie des Schicksals, das ihr schon zu viel Ironie und Schmerz beschert hatte.
“Ich danke Ihnen für das liebenswürdige Angebot, Lady Cahill, aber es würde mir im Traum nicht einfallen, Sie derart zu behelligen.”
“Dummes Ding! Ein solches Angebot schlägt man nicht so ohne Weiteres aus.
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