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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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dass mein Brief bei Dir ist. Und wenn Du aufwachen solltest, bevor ich in Deinem Zimmer bin, kannst Du unters Kissen greifen und diese Zeilen noch einmal lesen. Lesen ist wie Sprechen – Du kannst Dir dann vorstellen, dass ich bei Dir bin.
    Und das bin ich auch bald.
    Und dann darfst Du so viel Eis essen, wie Du willst! Was sagst Du dazu?
    Ich habe Dich sehr lieb.
    Mama

Chicks Familie nach der Scheidung
    N ach der Scheidung versuchten wir eine Weile so weiterzuleben wie bisher, doch das erwies sich in unserer Wohngegend als unmöglich. Kleinstädte sind wie Metronome; bei der kleinsten Veränderung ändert sich der Rhythmus. Zu uns Kindern waren die Leute netter als vorher. Beim Arzt bekamen wir noch einen Lutscher extra, in der Eisdiele eine besonders große Portion. Ältere Damen, denen wir auf der Straße begegneten, drückten uns ernsthaft die Schulter und fragten: »Wie geht’s euch denn?«, was für uns eine Erwachsenenfrage war. Die Kinderversion lautete: »Was macht ihr denn so?«
    Doch meiner Mutter erging es nicht so gut. Es war damals nicht üblich, dass man sich scheiden ließ. Ich kannte kein einziges Kind, dem das widerfahren war. In unserer Wohngegend war eine Trennung ein Skandal, und man wies einem der Partner die Schuld zu.
    Da nur noch meine Mutter greifbar war, war sie der Sündenbock. Niemand wusste, was sich zwischen Len und Posey zugetragen hatte, aber Len war jedenfalls verschwunden, und Posey konnte man noch verurteilen. Dass sie nicht um Mitleid heischte oder sich bei den Leuten ausweinte, machte die Situation nicht einfacher für sie. Und zu allem Überfluss war sie auch noch jung und hübsch. Für Frauen stellte sie eine Bedrohung, für Männer eine Verlockung und für Kinder eine Kuriosität dar. Keine erstrebenswerte Lage, wenn man es sich recht überlegt.
    Im Laufe der Zeit fiel mir auf, dass die Leute meine Mutter mit sonderbaren Blicken betrachteten, wenn sie ihren Einkaufswagen durch den Supermarkt schob oder wenn sie im ersten Jahr nach der Scheidung meine Schwester und mich in ihrer weißen Schwesterntracht vor der Schule absetzte. Sie stieg immer aus, um uns einen Abschiedskuss zu geben, und ich spürte die Blicke der anderen Mütter auf uns ruhen. Roberta und ich fühlten uns unbehaglich, wenn wir aufs Schultor zugingen.
    »Gib deiner Mutter einen Kuss«, sagte sie eines Tages und beugte sich zu mir herunter.
    »Nicht«, sagte ich und wich zurück.
    »Was nicht?«, fragte sie.
    »Einfach« – ich zog den Kopf ein -, »einfach... nicht.«
    Da ich ihr nicht in die Augen schauen konnte, blickte ich auf meine Füße. Sie verharrte einen Moment in dieser Haltung, dann richtete sie sich auf. Ich hörte sie schniefen und spürte, wie sie mir durchs Haar wuschelte.
    Als ich aufschaute, fuhr das Auto davon.
     
     
    Eines Nachmittags, als ich mit einem Freund auf dem Parkplatz an der Kirche Fangen spielte, traten zwei Nonnen aus der Hintertür. Mein Freund und ich erstarrten zu Salzsäulen, weil wir dachten, wir hätten irgendwas angestellt. Doch die Nonnen winkten mich zu sich. Beide hielten Aluminiumtabletts in Händen. Als ich näher kam, stieg mir der Geruch von Hackbraten und grünen Bohnen in die Nase.
    »Hier«, sagte die eine, »für deine Familie.«
    Ich kapierte nicht, weshalb sie mir Essen geben wollten, dachte mir aber, dass es nicht anging, einer Nonne etwas auszuschlagen. Ich nahm die Tabletts und brachte sie nach Hause, in der Annahme, dass meine Mutter vielleicht etwas bestellt hatte bei den Nonnen.
    »Was ist denn das?«, fragte meine Mutter, als ich reinkam.
    »Das haben mir die Nonnen gegeben.«
    Sie hob den Deckel an und schnüffelte.
    »Hast du darum gebeten?«
    »Nö. Wir haben an der Kirche Fangen gespielt.«
    »Du hast nicht darum gebeten?«
    »Nein.«
    »Wir brauchen nämlich kein Essen, Charley. Wir brauchen keine Almosen, falls du das glauben solltest.«
    Ich ärgerte mich. Das Wort »Almosen« kannte ich nicht, aber es klang eindeutig nach etwas, das man nicht bekommen sollte.
    »Ich habe nicht darum gebeten!«, sagte ich aufgebracht. »Ich kann grüne Bohnen nicht ausstehen!«
    Wir blickten uns an.
    »Ich kann nichts dafür«, sagte ich.
    Meine Mutter nahm mir die Tabletts ab und kippte das Essen ins Spülbecken. Dann zerquetschte sie den Hackbraten und die grünen Bohnen mit einem großen Löffel und drückte die Masse in die Öffnung des Müllschluckers. Sie war so fieberhaft damit beschäftigt, dieses Essen in das kleine Loch zu befördern, dass ich den

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