Nur einen Tag noch
Blick nicht von ihr wenden konnte. Dann drehte sie das Wasser auf. Es gurgelte im Ausguss, und als das Gurgeln aufhörte und die ganze Pampe verschwunden war, stellte meine Mutter das Wasser wieder ab und wischte sich die Hände an ihrer Schürze.
»So«, sagte sie und wandte sich zu mir um, »hast du Hunger?«
Das Wort »Geschiedene« kam mir zum ersten Mal nach einem Baseballspiel der American Legion zu Ohren. Die Trainer warfen hinten aus einem Kombi die Schläger heraus, und einer der Väter von der anderen Mannschaft hob versehentlich meinen auf. Ich rannte zu ihm und sagte: »Das ist meiner.«
»Ah ja?«, sagte er und rollte ihn zwischen den Händen hin und her.
»Ja. Ich bin mit dem Rad gekommen.«
Das mochte ihm sonderbar erscheinen, weil die meisten Jungen mit ihren Vätern unterwegs waren.
»Okay«, sagte er schließlich und reichte mir den Schläger. Dann blinzelte er und sagte: »Du bist der Junge von der Geschiedenen, nicht?«
Ich starrte ihn stumm an. Geschiedene ? Das klang exotisch, und so sah ich meine Mutter nicht. Früher hatten die Männer immer gefragt: »Du bist der Junge von Len Benetto, nicht?« Ich weiß nicht, was mir damals mehr zu schaffen machte – dass ich nun der Sohn dieses sonderbaren fremden Wortes war oder nicht mehr der Sohn der alten vertrauten Wörter.
»Und wie kommt deine Mama so zurecht?«, fragte der Mann.
Ich zuckte die Achseln. »Gut.«
»Ach ja?«, erwiderte er. Er blickte flüchtig übers Spielfeld, dann sah er wieder mich an. »Braucht sie Hilfe im Haus oder so?«
Es kam mir vor, als stünde meine Mutter hinter mir und ich müsste sie verteidigen.
»Sie kommt gut zurecht«, wiederholte ich.
Er nickte.
Wenn man einem Kopfnicken misstrauen kann, so tat ich das jedenfalls damals.
Dies war der Tag, an dem ich Bekanntschaft machte mit dem Wort »Geschiedene«, und ich entsinne mich auch noch genau an den Tag, an dem dieses Wort mir ein Gräuel wurde. Meine Mutter war von der Arbeit gekommen und schickte mich zum Supermarkt, um Ketchup und Brötchen zu kaufen. Ich beschloss, den kürzeren Weg zu nehmen, der hinter den Häusern entlangführte. An einem Bungalow sah ich zwei ältere Jungen herumsitzen, die ich aus der Schule kannte. Einer der beiden, ein bulliger Kerl namens Leon, drückte etwas an seine Brust.
»Hey, Benetto«, sagte er, als ich näher kam.
»Hey, Leon«, sagte ich.
Dann sah ich den anderen Jungen an. »Hey, Luke.«
»Hey, Chick.«
»Wo gehst’n hin?«, fragte Leon.
»Zu Fanelli’s«, antwortete ich.
»Ah ja?«
»Ja.«
Jetzt sah ich, was er an die Brust drückte. Ein Fernglas.
»Wozu ist das?«, fragte ich.
Er wandte sich rasch den Bäumen zu. »Vom Militär«, antwortete er. »’n Feldstecher.«
»Zwanzigfache Vergrößerung«, warf Luke ein.
»Lass mich mal gucken.«
Leon reichte mir das Fernglas, und ich schaute hindurch. Es fühlte sich warm an, und ich bewegte es hin und her, sah verwischt den Himmel, die Kiefern, meine Füße.
»So was benutzen sie im Krieg«, sagte Luke, »um den Feind zu sichten.«
»Gehört meinem Paps«, ergänzte Leon.
Ich wollte dieses Wort nicht hören. Ich gab Leon das Fernglas zurück.
»Bis dann«, sagte ich.
Leon nickte.
»Bis dann.«
Ich ging weiter, aber irgendetwas ließ mir keine Ruhe. Wieso hatte Leon sich so hastig den Bäumen zugewandt? Ich machte kehrt und versteckte mich in den Büschen. Und was ich nun sah, macht mir heute noch zu schaffen.
Die beiden hockten dicht beisammen, und sie blickten nicht zu den Bäumen hinüber, sondern zu meinem Haus, und schauten abwechselnd durch den Feldstecher. Ich folgte der Blickrichtung des Fernglases und landete beim Schlafzimmer meiner Mutter. Sah ihren Schatten, sah, wie sie die Arme über den Kopf hob und dachte mechanisch: Von der Arbeit gekommen, Schlafzimmer, zieht sich um . Mir wurde kalt, und irgendetwas fuhr mir in die Glieder.
»Uuuuaaah«, hörte ich jetzt Leon raunen. »Schau dir nur die Geschiedene an...«
Ich glaube, ich habe niemals zuvor und niemals danach je einen solchen Zorn empfunden. Blindwütig stürmte ich auf diese Jungen los und sprang sie von hinten an, obwohl sie größer waren, packte Leon und schlug auf alles ein, was mir unter die Finger kam.
Spaziergang
M eine Mutter zog ihren weißen Tweedmantel an und bewegte die Schultern hin und her, bis er richtig saß. In ihren letzten Lebensjahren hatte sie ältere Damen, die ans Haus gebunden waren, frisiert und ihr Make-up gemacht, hatte dafür
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