Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
Vom Netzwerk:
verbringen?«
    Ich hörte die Eier in der Pfanne brutzeln.
    »Hmm?«, sagte sie.
    Sie nahm die Pfanne vom Herd und trat zu mir.
    »Warum so still?«
    Ich brauchte ein paar Sekunden, um meine Stimme zu finden, als müsste ich mich erst erinnern, wie man sie benutzte. Wie spricht man mit Toten? Muss man andere Wörter benutzen? Eine Geheimsprache?
    »Mama«, flüsterte ich schließlich. »Das kann nicht sein.«
    Sie hob die Rühreier aus der Pfanne und schnitt sie auf meinem Teller mit dem Spatel in Stücke. Ich blickte auf ihre geäderten Hände.
    »Iss«, sagte sie.
     
     
    Irgendwann in der amerikanischen Geschichte hat sich wohl etwas geändert, und Eltern eröffneten ihren Kindern gemeinsam, wenn sie sich trennen wollten. Setzten sich mit ihnen zusammen. Erklärten in ruhigem, liebevollem Ton die neuen Regeln. Meine Familie ging kaputt, bevor man diesen modernen Stil einführte; mein Vater war einfach verschwunden und blieb verschwunden.
    Nach ein paar tränenreichen Tagen schminkte meine Mutter sich die Augen, legte Lippenstift auf, machte Bratkartoffeln für uns und sagte, als sie uns die Teller reichte: »Papa wohnt nicht mehr hier.« Das war alles. Wie eine Umbesetzung bei einem Theaterstück.
    Ich weiß nicht einmal mehr, wann er seine Sachen abholte. Eines Tages, als wir von der Schule nach Hause kamen, wirkte das Haus plötzlich geräumiger. Im Flurschrank war mehr Platz. Aus der Garage waren Werkzeuge und Kisten verschwunden. Meine Schwester weinte, fragte: »Bin ich schuld, dass Papa weggegangen ist?« und versprach meiner Mutter, dass sie viel artiger sein würde, wenn er wieder heimkäme. Ich weiß noch, dass ich auch am liebsten geweint hätte, aber mir war bereits bewusst geworden, dass ich jetzt der einzige Mann im Haushalt war. Was ich schon mit elf Jahren als Verpflichtung empfand.
    Außerdem hatte mein Vater immer »Kopf hoch!« zu mir gesagt, wenn ich weinte. »Kopf hoch, Junge, Kopf hoch.« Und wie alle Kinder, deren Eltern sich trennen, versuchte ich mich so zu benehmen, dass der Verschwundene wieder zurückkehren würde. Was bedeutete : Du darfst nicht weinen, Chick. Du nicht.
     
     
    Dennoch glaubten wir Kinder in den ersten Monaten, dass die Trennung vorübergehend sei. Ein Streit, und sie mussten sich nur wieder beruhigen. Eltern stritten nun einmal, oder? Unsere taten es jedenfalls. Wenn es wieder mal krachte, lungerten meine Schwester und ich auf dem oberen Treppenabsatz herum und lauschten – ich im Unterhemd, sie in ihrem hellgelben Pyjama, mit Ballerinaschuhen an den Füßen. Manchmal stritten sich die beiden auch wegen uns:
    »Wieso kannst du nicht einmal das erledigen, Len?«
    »Das ist doch nicht so wichtig.«
    »Doch, ist es! Und ich bin immer diejenige, die es ihnen sagen muss!«
    Oder über die Arbeit:
    »Du könntest dich wirklich mehr kümmern, Posey! Es gibt noch andere Menschen außer deinen Patienten im Krankenhaus!«
    »Die sind aber krank, Len. Soll ich ihnen sagen, tut mir leid, aber ich muss jetzt die Hemden meines Mannes bügeln? «
    Oder über mein Baseballspiel:
    »Es ist zu viel für ihn, Len!«
    »Er könnte es aber zu etwas bringen.«
    »Schau ihn doch nur an! Er ist ständig erschöpft !«
    Manchmal hielt meine Schwester sich dann die Ohren zu und weinte, aber ich horchte weiter. Für mich war das so, als schleiche man sich heimlich in die Welt der Erwachsenen. Ich wusste, dass mein Vater abends immer lange arbeitete und dass er in letzter Zeit auch zu den Großhändlern fuhr und deshalb manchmal über Nacht weg war. Meiner Mutter erklärte er: »Posey, wenn du diesen Kerlen nicht um den Bart gehst, nehmen die dich aus wie einen Fisch.« Ich wusste, dass er in Collingswood, was eine Stunde entfernt war, einen zweiten Laden eröffnet hatte, in dem er ein paar Tage die Woche arbeitete. Ich wusste, dass wir durch den zweiten Laden »mehr Geld und ein besseres Auto« bekommen sollten, aber ich wusste auch, dass die ganze Sache meiner Mutter nicht gefiel.
    Gut, sie stritten, aber ich hatte nie mit Schlimmerem gerechnet. Damals trennten sich Eltern nicht. Sie arrangierten sich. Sie blieben in der Mannschaft.
    Ich erinnere mich noch an eine Hochzeitsfeier, zu der wir alle eingeladen waren. Mein Vater trug einen Smoking, den er geliehen hatte, und meine Mutter ein schimmerndes rotes Kleid. Als sie aufstanden, um zu tanzen, hob meine Mutter die rechte Hand, und mein Vater nahm sie mit seiner großen Pranke. Obwohl ich noch so jung war, sah ich auf Anhieb, dass sie das

Weitere Kostenlose Bücher