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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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betrachtete, weil ich wusste, dass der Alkohol in Kürze seine Wirkung tun würde.
    Ich trat auf meine Mutter zu und legte ihr die Hand auf die Schulter; eigentlich erwartete ich, ins Leere zu greifen, wie man es in Geisterfilmen sieht. Aber meine Hand ruhte wahrhaftig auf ihrer Schulter, und ich spürte die Knochen unter ihrer Kleidung.
    »Aber du bist doch tot«, platzte ich heraus.
    Ein Windstoß wirbelte Blätter auf.
    »Du misst manchen Dingen zu viel Bedeutung bei«, entgegnete sie.
     
     
    Posey Benetto konnte gut erzählen, das sagte jeder. Aber im Gegensatz zu anderen Leuten, die gut erzählen können, besaß sie auch die Fähigkeit, gut zuzuhören. Sie hörte geduldig ihren Patienten im Krankenhaus zu. Sie hörte den Nachbarn zu, wenn man an heißen Sommertagen im Liegestuhl lag. Sie liebte Spaß und stupste jeden scherzhaft an, der sie zum Lachen brachte. Sie war einnehmend und charmant. Und so sahen die Leute sie auch: als die charmante Posey.
    Doch das galt offenbar nur, solange die großen Pranken meines Vaters ihre Schultern umfassten. Als sie geschieden war, frei von seinem Zugriff, wollten die verheirateten Frauen diesen Charme nicht in der Nähe ihrer Männer sehen.
    Weshalb meine Mutter all ihre Freundinnen verlor. Sie hätte ebenso gut die Pest haben können. Die Kartenspiele, zu denen sie und mein Vater sich immer mit Nachbarn trafen? Gab es nicht mehr. Einladungen zu Geburtstagsfeiern? Vorbei. Am vierten Juli roch es überall nach Holzkohle, aber niemand lud uns zum Grillabend ein. An Weihnachten sahen wir Autos bei den Nachbarn vorfahren und Gäste aussteigen. Aber meine Mutter hielt sich mit uns in der Küche auf und knetete Plätzchenteig.
    »Gehst du nicht zu der Weihnachtsfeier?«, fragten wir.
    »Wir feiern hier bei uns«, gab sie zur Antwort.
    Sie versuchte uns den Eindruck zu vermitteln, als sei es ihre Entscheidung. Nur wir drei, an sämtlichen Feiertagen. Ich glaubte lange, dass Silvester ein Familienfest sei, bei dem man Eis mit Schokosoße aß und mit Tröten vor dem Fernseher saß. Als ich erfuhr, dass meine Kumpels an diesem Abend für gewöhnlich den Schnapsschrank ihrer Eltern plünderten, weil die um acht Uhr fein herausgeputzt zu irgendwelchen Partys aufbrachen, war ich einigermaßen verblüfft.
    »Willst du damit sagen, dass du dazu verdonnert bist, Silvester mit deiner Mutter zu verbringen?«, fragten sie ungläubig.
    »Ja«, stöhnte ich.
    Doch in Wirklichkeit war meine charmante Mutter dazu verdonnert, dieses und viele andere Feste mit uns zu verbringen.

Als ich meine Mutter im Stich ließ
    Als mein alter Herr sich aus dem Staub macht, glaube ich bereits nicht mehr an den Weihnachtsmann, aber Roberta ist erst sechs Jahre alt und liebt den ganzen Zinnober: Sie legt Kekse vor die Tür, schreibt einen Wunschzettel, steht am Fenster, deutet zum Himmel und fragt: »Ist das da ein Rentier?«
    Als wir an Weihnachten zum ersten Mal zu dritt sind, denkt meine Mutter sich etwas ganz Besonderes aus. Sie besorgt sich eine komplette Weihnachtsmannmontur: rote Jacke und Hose, Stiefel, weißer Bart. Am Weihnachtsabend bekommt Roberta von ihr die Anweisung, um halb zehn ins Bett zu gehen und sich unter keinen Umständen um zehn Uhr in der Nähe des Wohnzimmers aufzuhalten – was Roberta natürlich dazu veranlasst, um fünf vor zehn aus dem Bett zu springen und wachsam zu sein wie ein Luchs.
    Ich schleiche, mit einer Taschenlampe bewaffnet, hinter ihr her. Wir setzen uns auf die Treppe. Plötzlich wird es im Wohnzimmer dunkel, und wir hören etwas rascheln. Meine Schwester schnauft aufgeregt. Ich schalte die Taschenlampe ein. Roberta quietscht unterdrückt: »Nein, Chick!«, und ich mache sie erst mal wieder aus, aber ich bin in diesem trotzigen Alter, und ich muss sie einfach wieder anmachen. Woraufhin wir meine Mutter in Weihnachtsmannkluft zu sehen kriegen, mit einem Kissenbezug als Sack auf dem Rücken. Sie dreht sich um und sagt mit verstellter Stimme: »Ho! Ho! Ho! Wer ist denn da?« Meine Schwester duckt sich, aber aus irgendeinem Grund richte ich den Lichtstrahl weiter auf meine Mutter, mitten in ihr Gesicht, sodass sie geblendet die freie Hand über die Augen hält.
    »Ho! Ho!«, bemüht sie sich weiter.
    Roberta krümmt sich, späht über ihre Fäuste und flüstert: »Chick, mach aus! Du verscheuchst ihn ja noch!« Aber ich denke nur daran, dass diese Situation so absurd ist und dass wir von jetzt an alles vortäuschen müssen: den Weihnachtsmann und eine vollständige Familie,

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