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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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danke. Abendessen ? Geht leider nicht. Besuch ? Schaffe ich nicht, nächste Woche vielleicht.
    Zählt man die Stunden, die man nicht mit seiner Mutter verbracht hat, so ergeben sie ein ganzes Leben.
     
     
    Jetzt nahm sie mich bei der Hand. Als wir Miss Thelmas Haus verließen, gingen wir einfach weiter, die Szenerie wechselte, und wir statteten mehreren Leuten kurze Besuche ab. Einige alte Freundinnen meiner Mutter waren mir noch vertraut, doch es erschienen auch Männer, die ich kaum kannte: ein Schlachter namens Armando, ein Steuerberater namens Howard, ein Mann mit platter Nase, der Uhren reparierte und Gerhard hieß. Bei all diesen Leuten hielt meine Mutter sich nur kurz auf, lächelte oder ließ sich für eine Weile bei ihnen nieder.
    »Die alle denken jetzt an dich?«, fragte ich.
    »Hm«, machte sie und nickte.
    »Erscheinst du überall, wo man an dich denkt?«
    »Nein«, antwortete sie, »nicht überall.«
    Ein Mann, der aus einem Fenster blickte, tauchte neben uns auf. Dann ein Mann in einem Krankenhausbett.
    »So viele«, sagte ich.
    »Sie waren eben einfach Männer, Charley. Ehrenwerte Männer. Einige waren auch Witwer.«
    »Bist du mit ihnen ausgegangen?«
    »Nein.«
    »Haben sie dich darum gebeten?«
    »Oft.«
    »Und wieso siehst du sie dann jetzt?«
    »Oh, das Vorrecht einer Frau, nehme ich an.« Sie legte die Hände zusammen und hielt sie über die Nase, um ihr Lächeln zu verbergen. »Aber es ist schön, wenn man nicht vergessen wird, weißt du.«
    Ich betrachtete ihr Gesicht. Auch im Alter, mit Ende siebzig, war sie noch eine elegante, attraktive Frau, selbst wenn ihre Haut Falten aufwies, ihre Augen hinter einer Brille verschwanden, und ihr Haar, das einst mitternachtschwarz gewesen war, nun das Silbergrau eines wolkigen Nachmittagshimmels angenommen hatte. Diese Männer hatten meine Mutter als Frau gesehen, was ich niemals getan hatte. Für mich war sie auch niemals Pauline gewesen, wie ihre Eltern sie genannt hatten, und nicht Posey, wie sie bei ihren Freunden hieß – lediglich Mama. Das war mein Name für sie gewesen. Ich sah sie nur als jemanden, der mit Topfhandschuhen das Essen auftrug oder uns zur Bowlingbahn chauffierte.
    »Warum hast du nie wieder geheiratet?«, fragte ich.
    »Charley.« Sie verengte die Augen. »Lass das doch.«
    »Nein. Im Ernst. Als wir Kinder aus dem Haus gingen – warst du da nicht einsam?«
    Sie blickte beiseite. »Manchmal. Aber dann habt ihr beide Kinder bekommen, und so hatte ich Enkel, und die Freundinnen hier – ach, du weißt schon, Charley. Die Jahre gehen ins Land.«
    Sie drehte die Handflächen nach oben und lächelte. Ich hatte ganz vergessen, wie angenehm es war, meiner Mutter zuzuhören, wenn sie über sich selbst sprach.
    »Das Leben vergeht schnell, nicht wahr, Charley?«
    »Ja«, murmelte ich.
    »Es ist so schade, wenn man Zeit verschwendet. Man glaubt immer, man hätte so viel davon.«
    Ich dachte an die Tage, die ich mit der Flasche zugebracht hatte. Die Abende, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte. Die Vormittage, die ich verschlafen hatte. An die Zeit, in der ich damit beschäftigt gewesen war, vor mir selbst davonzulaufen.
    »Weißt du noch?« Sie begann zu lachen. »Als ich dich zu Halloween als Mumie verkleidet habe? Und es zu regnen anfing?«
    Ich sah auf meine Füße. Du hast mein Leben ruiniert.
    Sogar damals, dachte ich, hatte ich anderen die Schuld gegeben.
     
     
    »Zeit fürs Abendessen«, sagte sie.
    Und damit fand ich mich in unserer Küche an dem runden Esstisch wieder, ein letztes Mal. Es gab Brathähnchen und Safranreis und gebratene Auberginen, alles dampfend heiß, vertraute Gerichte, die meine Mutter unzählige Male für meine Schwester und mich gekocht hatte. Doch im Gegensatz zu vorher, als ich verblüfft und erfreut gewesen war, mich hier wiederzufinden, geriet ich nun in einen nervösen, beunruhigten Zustand, als nahe ein Unheil. Meine Mutter blickte mich besorgt an, und ich versuchte sie abzulenken.
    »Erzähl mir von deiner Familie«, sagte ich.
    »Charley«, entgegnete sie, »du kennst doch all die Geschichten.«
    Mein Kopf hämmerte.
    »Erzähl sie mir noch mal.«
    Und das tat sie. Sie erzählte von ihren Eltern, die beide Einwanderer gewesen und vor meiner Geburt gestorben waren. Sie erzählte von ihren beiden Onkeln und ihrer verrückten Tante, die sich weigerte, Englisch zu sprechen und noch an Bannflüche glaubte. Sie erzählte von ihren Cousins Joe und Eddie, die an der anderen Küste lebten. Meist gab es

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