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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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von jeder Person auch eine kleine Anekdote zu berichten. (»Sie hatte immer furchtbare Angst vor Hunden.« »Er versuchte sich schon mit fünfzehn zur Marine zu melden.«) Es war mir jetzt ungeheuer wichtig, die Namen mit diesen Geschichten zu verbinden. Roberta und ich verdrehten früher immer die Augen, wenn meine Mutter mit diesen Geschichten anfing. Doch Jahre später, nach dem Begräbnis, stellte Maria mir Fragen zur Familie – wer mit wem verwandt war -, und ich hatte Mühe, sie zu beantworten, weil ich mich nicht erinnern konnte. Ein großer Teil unserer Geschichte war mit meiner Mutter ins Grab gesunken. Man sollte niemals zulassen, dass die eigene Geschichte auf diese Weise verschwindet.
    Deshalb hörte ich dieses Mal aufmerksam zu, als meine Mutter alle Zweige der Familie durchging und die einzelnen Personen an den Fingern abzählte. Als sie zum Ende kam, faltete sie die Hände, und ihre Finger verflochten sich ineinander wie das Leben jener Menschen.
    »Sooo«, trällerte sie, »das war’s.«
    »Du hast mir gefehlt, Mama.«
    Die Worte platzten einfach so aus mir heraus. Meine Mutter lächelte, sagte aber nichts. Sie schien über diesen Satz nachzudenken, seine Bedeutung zu erwägen wie ein Fischer, der ein Netz einholt.
    Dann, als die Sonne über dem Horizont unterging, in welcher Welt auch immer, schnalzte meine Mutter mit der Zunge und sagte: »Einen Besuch müssen wir noch machen, Charley.«

Der Tag, den er zurückhaben wollte
    N un muss ich von dem Tag erzählen, an dem ich meine Mutter zum letzten Mal sah, und von dem, was ich damals tat.
    Es war vor acht Jahren, an ihrem neunundsiebzigsten Geburtstag. Sie hatte im Scherz gesagt, die Gäste sollten lieber kommen, weil sie im nächsten Jahr niemandem mehr sagen würde, dass sie Geburtstag habe. Aber das hatte sie auch schon mit neunundsechzig und neunundfünfzig und vielleicht sogar mit neunundzwanzig gesagt.
    Sie hatte ihre Gäste an diesem Samstag zum Mittagessen bei sich zu Hause eingeladen. Meine Frau und meine Tochter waren da, meine Schwester Roberta, ihr Mann Elliot und deren drei Kinder (von denen die Jüngste, die fünfjährige Roxanne, nun ihrerseits ständig Ballerinaschuhe trug) sowie an die zwanzig Leute aus ihrer Wohngegend, darunter etliche ältere Frauen, die meine Mutter regelmäßig frisierte. Viele dieser Frauen waren nicht bei guter Gesundheit; eine kam sogar im Rollstuhl. Dennoch waren sie alle zuvor frisiert wurden, ihre Haare saßen tadellos, und ich fragte mich insgeheim, ob meine Mutter das Fest nur gab, damit die alten Damen einen Anlass hatten, sich schön zu machen.
    Meine Tochter kam angehüpft und fragte mich: »Darf Oma mich schminken?« Maria war jetzt vierzehn und noch ausgelassen und ungestüm.
    »Wieso denn das?«, fragte ich.
    »Ich möchte es so gern. Sie hat gesagt, wenn du ja sagst, macht sie’s.«
    Ich schaute zu Catherine. Sie zuckte die Achseln. Maria boxte mich an den Arm.
    »Bitte-bitte-bitte-bitte-bitte!«
    Ich habe mich ja schon genügend darüber ausgelassen, wie öde mein Leben war, seit ich nicht mehr Baseball spielte. Doch ich muss dazu sagen, dass Maria in dieses Gefühl nicht einbezogen war. Sie bereitete mir viel Freude, und ich bemühte mich nach Kräften, ihr ein guter Vater zu sein. Ich versuchte, auch auf die kleinen Dinge zu achten. Ich wischte ihr Ketchupflecken vom Gesicht, wenn sie Pommes frites gegessen hatte. Ich hockte mich zu ihr an ihr Kindertischchen und half ihr bei den Matheaufgaben, wenn sie Probleme hatte. Ich schickte sie wieder auf ihr Zimmer, als sie mit elf Jahren in einem rückenfreien Top ankam. Und ich war immer darauf aus, mit ihr Ball zu spielen oder schwimmen zu gehen, damit sie noch möglichst lange ein Wildfang blieb.
    Später, als sie in ihrem Leben keinen Platz mehr für mich hatte, erfuhr ich, dass sie für die Unizeitung Sportreportagen schrieb. Und über dieser Verbindung aus Wort und Sport wurde mir bewusst, wie man den Einfluss der eigenen Eltern unwillkürlich auf die eigenen Kinder überträgt, ob es einem nun passt oder nicht.
     
     
    Die Feier war in vollem Gange, mit Musik und Tellerklappern und angeregten Gesprächen. Meine Mutter las ihre Glückwunschkarten vor, als seien es Telegramme von ausländischen Würdenträgern – sogar die grellbunten, kitschigen, auf denen Häschen abgebildet waren. (»Wollte nur mal vorbeihopsen und sagen: Hoffe, Du machst Riesensprünge an Deinem Geburtstag!«) Wenn sie den Text vorgelesen hatte, hielt sie jede Karte

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