Nur Fuer Schokolade
Vorwort
Irgendwann, diagnostiziert der Verfasser dieses Buches, muß Leszek Pekalski den unbezähmbaren Drang verspürt haben, sich für die Qualen und Demütigungen zu rächen, die ihm von Kindheit an widerfahren sind – eine sicher oft richtige, grund-sätzlich jedoch auch geläufige und zuweilen etwas wohlfeile Erklärung für die schlimme Tatsache, daß da einer wahl- und ziellos im ganzen Lande, in diesem Falle in Polen, zu morden beginnt.
In diesem Fall allerdings stößt man gleich auf einer der ersten Seiten auf wenigstens eine plausible Begründung: Leszek wuchs nicht nur mit allen Nachteilen und Hemmnissen eines unehelichen Kindes auf, sondern er war, was jeder in seinem beschränkten Umfeld wußte, das Ergebnis einer brutalen Vergewaltigung seiner Mutter als halbes Kind. Noch einleuchtender aber, gleichermaßen noch plastischer und unmenschlicher, sind die in einer seltsam akribischen Schrift verfaßten und dem Autor übergebenen Aussagen des Jungen Leszek selber, warum er vor inzwischen 15 Jahren derart schauerlich aus dem Ruder lief: »Als meine Oma meine kleinen Hände auf die heiße Herdplatte legte, wenn ich bestraft werden sollte, da wußte ich schon, daß mein Leben schwierig und kaputt sein wird!«
1982 war es, registriert man, wenn man den Schauder über diese Barbarei verkraftet hat, und die Polen merkten nicht, was um sie herum, landauf und landab, geschah, weil sie alle Hände voll damit zu tun hatten, mit ihrer Gewerkschaft Solidarnosc 1982 gegen das verhängte Kriegsrecht und für die Demo-kratisierung des Landes zu kämpfen. Buchstäblich erst ein Jahrzehnt später dämmerte es ein paar Kriminalisten, daß da anscheinend ein Massenmörder unterwegs war – und selbst dann dauerte es noch mehrere Jahre, bis 1996 der Sensations-prozeß gegen den mühsam eingekreisten, verhafteten und nach dem Abschluß der Ermittlungen angeblich überführten Täter Pekalski beginnen konnte.
Zwanzig Fälle, die im Anschluß daran verhandelt wurden?
Dreißig, vierzig, fünfzig? Hundert Opfer, über deren gewaltsamen Tod dort in Slupsk, der historischen ehemaligen Hansestadt Stolp in Pommern, zu Gericht gesessen wurde, gar zweihundert und noch mehr? Die Auskunft überrascht: verbindlich beantworten – und daraus entwickelt sich der nach meiner Ansicht womöglich wichtigste und spannendste Handlungsstrang des Buches – läßt sich nicht einmal diese im Grunde einfachste und nächstliegende Frage.
In zahlreichen spektakulären Mehrfach- und Massenmordverfahren der Kriminal- und Justizgeschichte sind, meistens aus Gründen einer annähernd sinnvollen Prozeßökonomie, Opfer unter den Tisch gefallen; in aller Regel hat schon die Staatsanwaltschaft immer wieder Fälle, bei denen die Beweissituation unsicher war, der Täter seine Schuld genügend hartnäckig bestritt oder besonders zeitraubende Verfahrenszüge ins Haus standen, gar nicht erst in den Gesamtkomplex ihrer ohnehin längst überbordenden Anklage aufgenommen. Das war bei Friedrich Haarmann so und, in jüngerer Zeit, beim berüchtigten »Würger von Boston«; das geschah, überschlägig, mutmaßlich bei mindestens der Hälfte aller sogenannten Groß- und Jahrhundertfälle.
In einem Ausmaß wie bei Leszek Pekalski in Slupsk allerdings, dem in der Haft unappetitlich dick gewordenen Mann und Mörder, von dem hier die Rede ist, geschah es mit Abstand nie. Wir verdanken es, erstens, jenem deutschen Autor und Reporter, der hier unter dem Pseudonym Jaques Buval die Ergebnisse seiner Nachforschungen vorlegt, daß »Die Geständnisse des wahrscheinlich größten Massenmörders unserer Zeit« überhaupt an eine größere, über den Schauplatz Polen hinaus internationale Öffentlichkeit gelangen.
Der Titel, zweitens, verblüfft immerhin spontan, was soll das Wort »wahrscheinlich« in einem Kontext, in dem seit eh und je Fakten gelten oder ungerührt zugegeben wird, sie ließen sich nicht ermitteln, nämlich einem juristischen; was wird da summarisch relativiert, nachdem Pekalskis grausame Taten von Buval quasi im Indikativ und en detail beschrieben worden sind?
Am Ende, drittens, steht gleichwohl diese Erkenntnis: Buval beweist, daß seine Einschränkung sinnvoll und zudem über-zeugend für seine Redlichkeit ist. »Nur für Schokolade« hat sich der monströse Täter Pekalski ihm, dem Berichterstatter, geöffnet, schreibt Buval. ein »Honorar«, das Leszek scheinbar wertvoller war als alle anderen für ihn erreichbaren Güter der Welt; das, mit
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