Nur Gutes
Vater nicht musste.
‹Sie haben wahrscheinlich keine Kinder, nicht wahr, Anna?›, sagte Dagmar.
Albert stieß sich vom Stuhl, bettete das Luftkissen um, auf dem er saß, und ließ sich darauf fallen.
‹Wie geht es ihm?›, fragte Anna.
‹Wem?›, fragte Dagmar.
‹Simon.›
Gut, sehr gut, sagte Dagmar, er habe zwei Kinder, wunderbare Wesen, Tim und Charlotte, jedes zweite Wochenende seien sie bei ihm. Ein Zufall, was für ein Zufall!, dass ausgerechnet heute Simon zu Besuch käme mit Tim und Charlotte, Ankunft um elf Uhr fünfzig am Nordbahnhof.
‹So lange›, sprach Albert und klopfte die Predigt aufs Holz, ‹so lange wird Anna nicht bleiben wollen. Sie müssen bald weiter, denke ich.›
Anna Baumer nickte.
3 Rollkragen
‹Ich wollte nur schnell guten Tag sagen. Wenn ich schon hier bin.›
‹Ja›, sagte Albert.
‹Als Simon aus dem Gefängnis kam, holte er zuerst das Abitur nach und studierte Sozialpädagogik, drei Jahre. Ist er nicht ein bisschen jünger als Sie? Simon ist jetzt fünfunddreißig. Aber das hat ihm nicht sehr gefallen. Als Sozialpädagoge. Simon hat sich nicht durchsetzen können. Dann ließ er sich zum Korrektor schulen, arbeitete beim Holdener Tagblatt. Aber irgendwie, das war nichts für Simon, dieses Kommapicken und dieses Punkteschieben. Immer dieses Fehlersuchen. Fehler, die andere machten. Manchmal konnte er nicht schlafen, wenn er im Tagblatt einen Fehler sah, den er nicht gefunden hatte. Sie kennen ihn ja. Sie kannten ihn ja.›
Dagmar schwieg.
‹Das Tagblatt schreibt Plastik mit c, nicht mit k. Und wenn er nicht schlafen konnte, klar. Umso mehr Fehler entdeckte er nicht. Und jetzt, seit drei oder vier Jahren, seit vier Jahren bereits, ist er Redaktor für Nekrologe, Simon bearbeitet die Nachrufe, die im HoldenerTagblatt stehen. Er ist ganz zufrieden. Es geht gut, so weit.›
Dagmar sah zu Albert, seine Lippen waren verzerrt, die Brauen geschwollen.
Du hast Anna ins Haus gelassen, nicht ich -
‹Und wie geht es Ihnen, Frau Baumer?›, fragte Albert.
‹Oder ist die Frage unpassend, gar taktlos?›
Anna lächelte.
‹Es riecht gut hier drin›, sagte Anna und lächelte.
‹Wie damals›, sagte Dagmar.
Was fragen, wenn sie keine Antwort gibt? -
‹Ein Rührei vielleicht? Ein Rührei ist schnell gemacht. Ein Rührei täte Ihnen gut, glaube ich. Erfroren sehen Sie aus, wenn man das so sagen darf. Oder eine Suppe, eine schnelle Tütensuppe? Ich mach Ihnen eine Suppe, Anna, wenn Sie möchten.›
‹Dazu reicht die Zeit nicht›, sagte Albert.
‹Keine Suppe?›
‹Ich bleibe nicht lange, wollte mich nur zeigen.› Man müsste endlich fragen, ob sie bereue -
Sie stellte den Rucksack auf den Tisch und trat ans Fenster, langsam, zögerlich, und schaute ins Freie, vom Vorhang geschützt.
Dagmar fragte, ob Anna nicht bleiben könne, bis Simonkäme, Dagmar sagte, Simon würde sich freuen, sie hier zu sehen nach all den Jahren, elf Uhr fünfzig am Nordbahnhof, mit Tim und Charlotte.
Was meine Mutter war:
höflich (bis zur Verleugnung)
Jahrelang führte sie mich von einem Ohrenarzt zum zweiten, zum dritten, obwohl sie wusste, mir war nicht zu helfen. Ich kam schwerhörig auf die Welt, hörbehindert, Ursache unklar, wahrscheinlich Veranlagung, Ushersyndrom, Typ drei. Mutter zog mich von Klinik zu Klinik, weil sie den Gelehrten nicht zu sagen wagte, was sie längst wusste, Simons Ohren war nicht zu helfen. Mit sieben, mit acht verstand ich seltsame Wörter wie Frequenzbereich, Hörweite, Reaktionsaudiometrie, Stapediusreflex, ich wusste um die Häutchen, Härchen und Knöchelchen in meinen Ohren, Trommelfell, Hammer, Amboss, Steigbügel, Hörschnecke, Hörnerv.
Meine Eltern kauften drei Stimmgabeln, zwei kleine, eine größere. Die klopften sie ab und zu auf ein Möbel oder auf ihre Finger, hielten sie mir ans Ohr und warteten, ob ich ein Zeichen gab, dass ich hörte. Manchmal, wenn ich lieber vor dem Fernseher saß als den Stimmgabeln meiner Mutter zu horchen, sagte ich, ich hörte es summen, obwohl ich nichts hörte. Manchmal, um sie zu ärgern, weil sie schon wieder mit der Stimmgabel kam, sagte ich, ich hörte nichts summen, obwohl ich es längst hörte.
Und so hielt ich es auch mit den Ärzten.
Dann, eines Tages, kam der Brief, ich sei eingeladen zu einem Kongress berühmter Spezialisten, mein Fall, interessant und sehr selten, sei es wert, Fachleuten vorgestellt zu werden. Ich war zehn Jahre alt, der Kongress im nahen Ausland, weg von Aberwald.
Da
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