Nur Gutes
kann ich nicht hin, weinte ich.
Aber warum nicht?, fragte meine Mutter.
Weil es Ausland ist.
Aber du kannst vielen Menschen helfen, wenn du dorthin fährst, sagte Mama.
Ich will vielen Menschen nicht helfen.
Warum nicht?
Im Ausland habe ich Angst.
Warum denn?
Weil es im Ausland ist.
Wir schliefen in einem Hotel, noch nie hatte ich in einem Hotel geschlafen, an der Wand hing ein Bild, darauf eine Frau mit langem nackten Rücken. Ich lag an der Seite meiner Mutter, konnte nicht schlafen, ich hörte ihren Atem und schlief irgendwann ein. Dann erwachte ich, meine Hose war nass. Ich zog sie aus, so leise, langsam und unbewegt, dass Mama nichts merkte. Das Bett, glücklicherweise, war nur wenig feucht. Ich nahm die Hose zwischen meine Hände und begann sie zu reiben, ich rieb die Hose, bis sie trocken war, vielleicht eine Stunde lang, dann zog ich sie wieder an, leise und langsam genug, damit Mama nichts merkte, meine Hände glühten, ich roch an meinen Händen, sie rochen süß und wundersam.
Mama, als wir wieder zu Hause waren, schenkte mir einen gelben Rollkragenpullover.
Mama fuhr mir übers Haar und sagte: Ich machte ins Bett, bis ich elf war.
Ich, Simon Mangold, hätte mich gefreut, Anna Baumer zu sehen, meine erste Liebe, meine einzige, Anna Baumer, die mich ins Gefängnis brachte, sechzehn Monate in Anderau.
Lange Briefe schrieb ich ihr, sie antwortete auf keinen.
‹Sie waren an seinem Grab.›
Anna drehte sich zu Albert und nickte.
‹Wundert Sie das?›
‹Man hielt Sie, um es mal so zu sagen, für verschollen.›
Dagmar stand auf, zog eine Schublade, nahm daraus ein langes Messer, eine lange Gabel mit zwei Zinken, und legte sie neben das Spülbecken, schloss die Schublade. Anna Baumer erinnert an ein gehetztes Tier -
‹Man hielt mich für verschollen›, sagte Anna und begann zu lachen, tief und heiser. Sie setzte sich an den Tisch, zog den Rucksack näher.
‹Ich hatte gedacht, ich käme nie mehr nach Aberwald, sechzehn Jahre lang hatte ich so gedacht. Nur schon der Name. Aberwald. Wo ich ständig rückwärts ging.›
Anna schwieg.
‹Das verstehe ich nicht›, sagte Albert.
Noch als junge Frau, mit zwanzig und älter, habe sie hier manche Straßen gemieden, Frauengasse, Minervaweg,Meierhof, aus Angst, jemand erinnere sich an das kleine Mädchen Anna Baumer, das oft rückwärts ging, rückwärts durch die Frauengasse, an deren Ende das Schulhaus stand, rückwärts durch den Minervaweg, der zum Fluss führte. Ein Junge aus der Nachbarschaft, Eduard Beck, kaum älter als Anna, vielleicht neun, hätte sie gewarnt, bei Rückenwind unterwegs zu sein. Denn einer wie ihr, einer wie Anna, deren Ohren vom Kopf abstanden, blase der Wind, wenn er von hinten komme, die Ohren zu Segeln, und dann, je nach Windstärke, trage der Wind sie fort, über Stadt und Fluss.
Anna schwieg.
‹Aber ich musste zur Schule, ich wollte zum Fluss. Wenn ich das Haus verließ, wo wir wohnten, suchte ich zuerst den Wind und stellte fest, kommt er von vorn, kommt er von hinten. Kam er von hinten, ging ich rückwärts.›
‹Lustig›, sagte Dagmar.
‹Ich glaube›, sagte Albert, ‹Ihr Vater war mein Freund. Ich kann über ihn wenig sagen. Paul Baumer war mein bester Freund oder mein einziger. Deshalb ahne ich, wie wenig ich über ihn weiß.›
Anna begrub die Hände im weiten Mantel.
‹Die Kirche war voll, gefüllt bis zur letzten Bank. Ein schönes Begräbnis war es. Ein würdiges Begräbnis. Mit Chor und Orchester›, sagte Dagmar.
Anna sah zum Fenster.
‹Paul hätte sich gefreut, von Ihnen zu hören, irgendwann, irgendeinmal›, sagte Albert.
‹Er hätte sich gefreut, von mir zu hören›, flüsterte Anna. Viertel vor zehn.
‹Kann sein, dass er sich gefreut hätte›, sagte Anna, ‹kann sein. Aber es ging nicht. Wie hätte das denn gehen sollen? Ich konnte ihn nicht anrufen, konnte ihm nicht schreiben. Kein Zeichen geben. So dumm bin ich nicht, dass ich angerufen hätte. Wie hätte das denn gehen sollen?›
‹Das war kein Vorwurf›, sagte Albert leise.
Dagmar, in ihrem roten Morgenrock, trat an den Tisch, um sich zu setzen, sie hob den Rucksack, der neben Anna lag.
‹Der bleibt hier›, fuhr Anna auf und drückte ihren Arm auf den Sack.
Dagmar ging einen Schritt zur Seite, Dagmar, die Augen weit, sah zu Anna, dann zu Albert, Dagmar rettete sich neben den hohen blauen Kühlschrank.
Wie schön Anna auf einmal ist, dachte er.
Sie schwiegen.
Albert sah zur Uhr.
‹Entschuldigung›, sagte
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