Nur wenn du mich hältst (German Edition)
seinem Magen ebbte ein wenig ab. „Was soll ich jetzt tun?“, fragte er Lt. Flynn. „Ich kann nicht einfach abwarten, was passiert. Sollte ich nicht wenigstens nach New York fahren?“
„Sie sollten uns unsere Arbeit machen lassen“, erwiderte Flynn. „Ich weiß, das ist schwer, aber das Beste, was Sie für Ihren Jungen tun können, ist, uns alle Informationen für die Datenbank zur Verfügung zu stellen. Die New Yorker Polizei hat bereits die Fotos, die Zugverbindung und eine Beschreibung von AJ vorliegen. Wir werden als Nächstes seine möglichen Ziele zufügen und …“
Bos Handy klingelte, und er klappte es sofort auf. „Crutcher.“
Alle Köpfe im Raum drehten sich in seine Richtung. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Sein Herz setzte einen Schlag aus.
„Ich bin’s“, sagte eine leise Stimme. „AJ.“
Bo ließ sich gegen die Tür sinken und hob erleichtert den Daumen als Signal für die anderen, dass alles okay war.
Auf der Fahrt überlegte Bo, was er sagen sollte. Er stellte sich vor, einen ernsten väterlichen Vortrag über Verantwortung und das Treffen von Entscheidungen zu halten. Er würde erklären, wieso es wichtig war, dass er ein Auge auf AJ hatte. Ja, er würde als Musterbeispiel des verantwortungsvollen Erwachsenen auftreten. Doch als er schließlich AJ gegenüberstand, ließ er sich allein von seinen Instinkten leiten.
Der Junge stach in dem geschäftigen, hell erleuchteten Raum des Gemeindezentrums heraus. Er stand still da und presste den Rucksack an seinen Bauch. Als AJ ihn sah, spiegelten sich Erleichterung und Verzweiflung in seinen Zügen. Was immer er zu sagen und zu tun vorgehabt hatte, Bo vergaß es auf der Stelle. Er breitete nur die Arme aus, packte ihn und drückte ihn fest. AJ schien perfekt an seine Brust zu passen. Er war warm und lebendig, roch nach Shampoo und der Großstadt und einem ganz besonderen Duft, der keinen Namen hatte. Mein Sohn, dachte er. Endlich halte ich meinen Sohn in den Armen . Die Erleichterung, die ihn überkam, war so intensiv und süß, dass es schmerzte.
„Tu so etwas nie wieder“, flüsterte er mit rauer Stimme. „Hörst du? Lauf bitte nie wieder weg.“
AJ zitterte, doch Bo spürte, wie er nickte.
„Komm.“ Seine Kehle war eng. „Das war ein fürchterlicher Tag. Lass uns nach Hause fahren.“
Auf der Straße standen mehrere Teenager um sein Auto herum. Coole Kids in zu großen schwarzen Klamotten voller Neonstreifen. Der Roadster war keine Marke, die man in dieser Gegend häufig sah. Bo spürte, wie AJ sich neben ihm versteifte, und sobald er den Wagen öffnete, schlüpfte der Junge hinein und zog die Tür hinter sich zu. Von den gemurmelten spanischen Kommentaren schnappte Bo nur gabacho auf – ein abwertender Begriff, den er nur zu gut kannte, den er jedoch zu ignorieren beschloss. Er nickte den Gaffern freundlich zu, stieg in aller Ruhe ein, dann machten sie sich auf in Richtung Expressway.
„Geht es dir gut?“, fragte er.
„Ja.“
„Niemand, der dich belästigt hat?“
Er spürte, dass AJ auf dem Sitz umherrutschte und durch das Fenster nach hinten schaute.
„Haben die Kinder dir Schwierigkeiten gemacht?“
AJ drehte sich um und richtete seinen Anschnallgurt. „Nein.“
„Einige von denen sahen ziemlich fies aus“, sagte Bo und hoffte, den Jungen damit zum Reden zu bringen.
„Findest du?“
„Ja. Ich bin mit Kindern wie ihnen aufgewachsen“, erklärte er. „Sie haben mich beinahe jeden Tag in der Schule oder beim Training drangsaliert.“
Endlich zeigte AJ einen Hauch von Interesse. „Warum?“
„Ach, solche Typen brauchen keinen Grund. Sie fanden mich vermutlich einfach scheiße.“ Er warf AJ einen Blick zu und sah, dass sich ein kleines Lächeln in seine Mundwinkel grub.
„Was hast du dagegen getan?“, wollte er wissen.
„Ich bin so schnell ich konnte abgehauen. Sie haben mich aber trotzdem erwischt. Ich war ein ziemlich schmächtiges Kerlchen.“
„Wirklich?“
„Ja. Eine kleine Kaulquappe, bis ich endlich einen Wachstumsschub hatte. Das war so mit vierzehn. Da bin ich nachts manchmal aufgewacht, weil meine Beine so wehgetan haben. ‚Das sind Wachstumsschmerzen‘, hat mein Bruder Stoney immer gesagt. Wie sich herausstellte, hatte er recht. Ein Jahr darauf war ich über eins achtzig groß, und sie haben aufgehört, mich zu ärgern. Sie dachten, sie könnten es mit mir sowieso nicht mehr aufnehmen. Was gut war, denn bis heute habe ich keine Ahnung, wie man sich prügelt und dabei
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