Nur wenn du mich hältst (German Edition)
langes Rohr. Kim rief sich in Erinnerung, dass der demütigende, schreckliche, verwirrende Vorfall hinter ihr lag. Klienten, die unter Schmerzen litten, empfahl sie oft, darüber hinauszuwachsen, sich auf die Heilung zu konzentrieren. Es war an der Zeit, ihren eigenen Ratschlag zu beherzigen.
„Ist schon gut“, sagte sie mit leiser, fester Stimme, setzte langsam die Sonnenbrille ab, legte sie beiseite und wischte sich mit der Ecke ihrer Stola vorsichtig das Make-up ab.
Ihre Mutter starrte sie fassungslos an, und sofort verwandelte sich ihr Entsetzen in pure Wut. Penelope van Dorn war niemand, der leicht wütend wurde, aber wenn, dann flammte der Zorn so schnell auf wie ein Buschfeuer.
„Guter Gott. Wie lange geht das schon so?“
Kim ließ den Kopf hängen. „Mom. Ich bin zwar eine dumme Kuh, doch so dumm nun auch wieder nicht. Ich hatte keine Ahnung, dass er fähig ist, jemanden zu schlagen. Dann hatten wir gestern Abend diesen grässlichen Streit über irgendetwas Unwichtiges, der eskaliert ist.“ Sie schluckte die Übelkeit hinunter und erinnerte sich an die wachsende Menge an der Rezeption und daran, wie sie das Hotel verlassen hatte und Lloyd ihr zum Parkplatz gefolgt war. Seine Faust war ihr überhaupt nicht wie ein Teil seines Körpers erschienen, sondern wie eine Waffe zur Ausübung stumpfer Gewalt. Der Schlag war aus dem Nichts gekommen, angestachelt von Wut.
Eins musste man ihr lassen. Sie lernte schnell. Sie war fort, bevor er noch seine Krawatte hatte richten können.
Die Augen ihrer Mutter füllten sich mit Tränen. „Kimberly, das tut mir so leid.“
„Ich weiß, Mom. Mach dir keine Gedanken. Er ist Geschichte“, sagte sie entschlossen.
„Du musst ihn anzeigen.“
„Daran habe ich auch schon gedacht, aber ich werde es nicht tun. Wenn man bedenkt, wer er ist, habe ich kaum eine Chance. Ich würde das alles nur noch mal durchleben müssen und wofür? Man wird ihn nie verurteilen.“
„Aber …“
„Bitte, Mom, tu mir einen Gefallen und bemitleide mich nicht und schalte nicht die Polizei ein. Ich will so tun, als hätte es Lloyd Johnson nie gegeben. So ist es am besten. Deshalb bin ich hier – um neu anzufangen.“
Mit einem Mal fand sie sich in der Umarmung ihrer Mutter wieder, die sich gleichzeitig weich und fest anfühlte, und Kim spürte, wie sehr sie ihn vermisst hatte, Penelopes tröstlichen Duft. Als sie die Augen schloss und tief einatmete, erwachte ein altes, längst vergessenes Gefühl der Sicherheit in ihr. Doch so süß diese Empfindung auch war, sie stieß direkt durch den Panzer aus Schmerz und Schock. Heftige Schluchzer bahnten sich ihren Weg nach oben und brachen an der vertrauten Schulter aus ihr heraus. Sie saßen zusammen, ihre Mutter streichelte ihr Haar und gab beruhigende Laute von sich, bis Kim sich völlig leer, aber innerlich gereinigt fühlte.
Penelope gab ihr ein Taschentuch, damit sie sich das Gesicht abwischen konnte. Kim tupfte sich die Tränen aus den Augen. „Das heilt wieder. Ich habe beim Sport schon schlimmere Blessuren erlitten.“
„Von jemandem verletzt zu werden, den man liebt und dem man vertraut, trifft einen tiefer als die Verletzung selbst.“ Ihre Mutter sprach mit leiser und doch so überzeugender Stimme, dass Kim sich Sorgen machte.
„Mom?“
„Komm, ich bringe dich erst mal nach oben.“
Kim folgte ihr durch den vorderen Salon – Apfelgrün – in den Hauptflur – Kürbisorange.
„Du bekommst dasselbe Zimmer, in dem du immer geschlafen hast, wenn du bei deinen Großeltern zu Besuch warst. Ist das nicht schön? Ich habe es im Großen und Ganzen so gelassen. Im Schrank hängen sogar noch ein paar Sachen, sodass du es dir erst einmal gemütlich machen kannst. Du siehst nicht so aus, als hättest du seit der Highschool auch nur ein Gramm zugenommen.“
Seitdem sie in L.A. wohnte, hatte Kim es nicht gewagt zuzunehmen. Und trotzdem war sie sich mit Kleidergröße 34 neben den meisten anderen Frauen wie ein Footballspieler vorgekommen. Es gefiel ihr, wie wohl sich ihre Mutter in ihrer Haut zu fühlen schien.
In diesem riesigen, stillen Haus, das so viele Kindheitserinnerungen barg, betrat Kim ihre eigene Vergangenheit. Der Flur im ersten Stock bildete ein T am Ende. Nach rechts ging es in ihr Reich. Als einziges Enkelkind hatte sie immer den ganzen Flügel für sich allein gehabt.
„Was machst du für ein Gesicht?“, fragte ihre Mom.
„Ich mache kein Gesicht.“
„Machst du wohl. Du siehst aus, als hättest du
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