Nur wenn du mich hältst (German Edition)
aufgegeben.“
„Schau mich doch an. Ich habe angeblich dieses fabelhafte Leben, und nun ziehe ich wieder bei meiner Mutter ein.“ Sie zögerte. „Vorausgesetzt, du bist damit einverstanden.“
„Einverstanden? Es ist exakt das, was wir beide im Moment brauchen. Da bin ich mir sicher. Hier schließt sich der Kreis. Alles wird ganz wunderbar, du wirst sehen.“
Kim hätte gerne gewusst, was fabelhaft werden würde, aber sie fragte nicht nach.
„Ich lasse dir Badewasser ein. Das ist jetzt genau das Richtige.“ Ihre Mutter eilte ins Badezimmer und werkelte geschäftig herum.
„Oh ja, ein heißes Bad wäre himmlisch.“ Kim seufzte.
Als sie das Stöhnen der rostigen alten Leitungen hörte, stellte sie ihre Abendtasche ab, ließ den Seidenschal auf das Bett fallen und zog endlich – bei Gott endlich – ihre Schuhe aus. Dann schlenderte sie durchs Zimmer und machte sich erneut mit den Dingen vertraut, die sie längst vergessen hatte – die Andenkensammlung vom Camp Kioga, einem rustikalen Sommercamp am nördlichen Ende des Willow Lake. Als Kind war sie oft dort gewesen und hatte zu ihrer Teenagerzeit dort als Betreuerin gearbeitet. Sie hatte keine großartige Bindung an diese kleine Stadt, doch ihre Besuche hier waren ihr lebhaft in Erinnerung geblieben. Jeder Sommer, den sie im Camp Kioga verbrachte, war eine magische Kette von endlos aufeinanderfolgenden Sonnentagen am Willow Lake, eine Welt entfernt von Upper Manhattan, wo sie ansonsten lebte. Diese zehn Sommerwochen Jahr für Jahr hatten sie genauso geprägt wie die teuren Privatschulen in New York. Das bemalte Ruder, auf dem alle Freundinnen aus ihrer Hütte unterschrieben hatten, brachte eine Flut von Erinnerungen an Gespenstergeschichten und nächtliches Gekicher zurück. Die auf dem Regal aufgereihten Pokale gehörten einem Mädchen, das in allen Sportarten gut war.
Sie nahm ein graues Kapuzensweatshirt mit dem Camp-Logo aus dem Schrank, das sie bekommen hatte, als sie siebzehn war, und zog es über. Es war immer noch viel zu groß und reichte ihr bis zur Mitte der Oberschenkel. Der weiche Stoff wärmte sie und weckte Erinnerungen an diese weit zurückliegende Zeit. Sie hatte es damals nicht gewusst, aber das war der Sommer gewesen, der die Richtung ihres Lebens bestimmen sollte. Sie schloss die Augen und vergegenwärtigte sich, wie intensiv ihr alles vorgekommen war. Wie bedeutsam. Von Idealismus erfüllt hatte sie sich eine fabelhafte Zukunft für sich ausgemalt. Ein Leben, von dem sie dachte, es inzwischen zu führen – bis gestern.
Aus dem Giebelfenster konnte man die Berge sehen. Als kleines Mädchen hatte sie sich bei ihren Besuchen hier immer auf die breite Fensterbank gekuschelt, nach draußen geschaut und davon geträumt, dass ihre Bestimmung irgendwo hinter dem Horizont läge. Und das hatte sie ja auch für eine Zeit. Jetzt schloss sich der Kreis, wie ihre Mutter es genannt hatte.
Ihr Abendkleid glitt zu Boden – ein schimmernder Haufen Pailletten und Seide. Der trägerlose BH war nicht nach Gesichtspunkten der Bequemlichkeit entwickelt worden, und ihn abzunehmen entlockte Kim einen Seufzer der Erleichterung. Mehr hatte sie unter dem Kleid nicht an – bei einem Stoff, durch den sich alles so sehr abzeichnete, musste man Kompromisse eingehen.
„Sind die Handtücher im Wäscheschrank?“, rief sie Penelope zu.
„Ja, genau, Liebes.“
Ihre Mutter sagte noch etwas, aber das rauschende Wasser übertönte sie. Kim ging den Flur hinunter zum Schrank.
Dort stand ein fremder Mann in einem Trenchcoat und schaute sie an. Er war älter, hatte silbergraues Haar und die Ausstrahlung eines harten Kerls. Und er hatte absolut nichts in diesem Haus zu suchen.
Panik erfasste sie und löste sich in einem Schrei. Im gleichen Augenblick zog sie das Sweatshirt enger um sich und zerrte am Saum, um ihm Länge zu geben.
„Oh, Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken“, sagte der Mann.
Kim versuchte, nicht zu hyperventilieren. „Bleiben Sie, wo Sie sind“, sagte sie mit leiser und, wie sie hoffte, ruhiger Stimme. Mom, dachte sie. Sie musste ihn von ihrer Mutter fernhalten. Normalerweise hatte sie immer Pfefferspray bei sich, doch natürlich war die Dose vergangene Nacht von den Mitarbeitern der Flughafensicherung konfisziert worden. „Die Wertsachen befinden sich alle unten. Nehmen Sie sich einfach, was Sie wollen. Aber bitte … gehen Sie.“ Sie zeigte auf die Treppe und war sich nur zu bewusst, dass sie dem Mann mit jeder Geste eine
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