Nur wenn du mich hältst (German Edition)
werden.
Das Schlechte daran war, dass es wegen etwas, das Mrs Bellamy-Shepherd „Rückstau“ nannte, ewig dauern konnte, bis es zu einer Anhörung kam. Obwohl die Anwälte Eilanträge gestellt hatten, würde es sich Wochen oder gar Monate hinziehen. Hinzu kam – er hatte das auf Bos MacBook im Internet nachgeschaut –, dass das Abschiebelager nichts anderes als ein Gefängnis war.
Ein Gefängnis. Er mochte sich seine Mutter nicht im Gefängnis vorstellen. Er konnte sie sich vorstellen, wie sie ihm lauschte, wenn er ein Gedicht vorlas. Er konnte sie vor sich sehen, wie sie in ihrem Bademantel am Sonntagmorgen am Frühstückstisch saß, ihren Kaffee trank und Radio hörte. Er sah sie auf dem Korridor der Schule vor sich, wie sie auf ihr Eltern-Lehrer-Gespräch wartete. Sie trug immer ihre hübscheste Bluse, die Ärmel mit einer scharfen Falte gebügelt, das Haar mit einer Spange zurückgebunden, die Lippen glänzend vom Lippenstift. Er sah seine Mom spät aus der Fabrik nach Hause kommen, so erschöpft, dass sie kämpfen musste, um ein Lächeln für ihn zustande zu bringen. Und er sah sie vor sich, wie sie ihm das Haar aus der Stirn strich und sagte: „Du brauchst einen Haarschnitt, hijo , damit ich deine schönen langen Wimpern sehen kann.“
Er konnte sich seine Mom auf hundert verschiedene Arten vorstellen, aber nicht im Gefängnis.
Schlimmer noch, Mrs Bellamy-Shepherd hatte erklärt, dass es riskant war, die Verhaftung seiner Mom anzufechten, weil man sie dann sehr wahrscheinlich beschuldigen würde, etwas Illegales getan zu haben.
„Sie hat aber nichts Illegales getan“, sagte er.
„Ich denke, da hast du recht“, erwiderte sie. „Dennoch könnte irgendetwas aufkommen – ein Strafzettel wegen Falschparkens, ein abgelaufenes Kennzeichen, vielleicht hat sie mal Abfall auf die Straße geworfen oder ein Formular nicht richtig ausgefüllt. Oder einen Englischkurs besucht, ohne die entsprechenden Papiere zu haben. Manchmal bekommen Menschen einfach nur deshalb Probleme, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind.“
„Sie war bei der Arbeit“, sagte er. „So wie jeden Tag.“ Er wusste, was das wirkliche Problem war – seine Mom hatte braune Haut und sprach Englisch mit Akzent.
„Es tut mir leid, AJ. Das System hat unglaublich viele Mängel, und dafür müssen manchmal Menschen wie deine Mom den Preis zahlen.“
Hier war er nun also, ein paar Tausend Meilen vom einzigen Zuhause entfernt, das er je gekannt hatte, und lebte in diesem verrückten Haus mit einer Gruppe Fremder.
Das Seltsame daran war, meistens fühlte es sich an wie eine große Familie.
Natürlich fände er das alles wesentlich cooler, wenn er sich nicht solche Gedanken über seine Mom machen müsste. Wenn er wieder mit ihr vereint wäre, vielleicht könnten sie dann zusammen an einem Ort wie diesem wohnen. Das wäre super. Er hatte sich schon immer eine größere Familie gewünscht, obwohl er wusste, dass Geschwister miteinander stritten und sich Sachen wegnahmen. Er mochte die Geräuschkulisse und das Gefühl, von einer Gruppe Menschen an einem Ort umgeben zu sein, an den er gehörte. Nachdem Bruno sie verlassen hatte, hatte es nur ihn und seine Mom gegeben, sodass er die meiste Zeit allein gewesen war, da sie gearbeitet hatte.
In dieser schneebedeckten Kleinstadt in dem großen verrückten Haus zu sein bedeutete, dass er sich, während er auf ihre Heimkehr wartete, wenigstens nicht langweilen würde. Das war doch schon mal was. Das Haus selbst war wie eine Villa aus einem historischen Roman – gleichzeitig herrschaftlich und ein wenig gruselig. Es hatte einen runden Turm mit drei Etagen, altmodische Zimmer mit hohen Decken und Schnitzereien an den Balken. Die Möbel waren ebenfalls alt, aber gut erhalten, und die Schneedecke im Garten durchzogen Spuren von verschiedenen kleinen Tieren. Die Herrscherin über all das war Mrs van Dorn. Sie hatte ein offenes Gesicht und freundliche Augen und war eine gute Köchin, wie sie jeden Abend mit dem Abendbrot bewies, das sie selbst kochte.
Alles in allem wäre es nicht so schlecht, wenn er nur seine Mom bei sich hätte.
Beim Abendessen füllte AJ sich einen Teller mit Spaghetti und Fleischklößchensoße und eine Schüssel mit Salat und krossen Croûtons. Er setzte sich neben Bo in das in bunten Farben gestrichene Esszimmer. Leise Musik drang aus dem Lautsprecher, der hinter einer Zimmerpflanze stand, und mischte sich mit der gemurmelten Unterhaltung der Leute, die einander
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