Nur wenn du mich hältst (German Edition)
fing ihren Blick auf und nickte ihr dankbar zu. „Nun“, sagte er dann. „Du machst dich besser auf den Weg zur Haltestelle.“ Er brachte AJ zur Haustür. „Pass auf dich auf. Wir sehen uns nachher.“
„Tschüss.“ AJ ging in das kalte Halbdunkel des Wintermorgens hinaus und über den langen Weg, der das schneebedeckte Grundstück in zwei Hälften teilte. Am Ende angekommen, wandte er sich nach links der Hauptstraße zu. Im bläulichen Licht, mit gegen die Kälte hochgezogenen Schultern erinnerte er an einen Verurteilten auf dem Weg zur Todeskammer. Er ging wie ein alter Mann, den Blick fest auf den Boden gerichtet, den Kopf tief zwischen die Schultern geklemmt. Auf halbem Weg die Straße hinunter war die Bushaltestelle, an der sich schon ein paar Kinder eingefunden hatten.
Bo schloss die Tür und blieb so lange stehen, bis AJ im Schatten verschwand. „Verdammt“, murmelte er, überrascht vom Schmerz, den er empfand. Mitleid mit einem Kind zu haben war ein unerwartet intensives Gefühl. „Verdammt, verdammt, verdammt.“
„Das ging doch ganz gut“, erklang eine sanfte Stimme hinter ihm.
„Finden Sie?“ Er drehte sich zu Kim um. „Ich wollte ihn mit dem Auto bringen, wenigstens an seinem ersten Tag. Er meinte, er will das nicht.“
„Dann war es sehr klug von Ihnen, seine Wünsche zu respektieren.“
„Ich hatte keine Ahnung, dass es so schwer sein würde.“
„Ich glaube, es soll gar nicht leicht sein.“ Sie schaute ihn herausfordernd an. „Ich bin kein Experte, was Kinder angeht, aber so viel weiß ich denn doch.“
„Nur weil es niemanden gibt, auf den ich sauer sein kann, heißt das nicht, dass ich nicht sauer bin. Ich bin auch kein Experte. Die meisten Menschen haben Zeit, sich an das Elternsein zu gewöhnen. Ich bin immer noch dabei. Meine Vaterrolle hat sich bisher auf den rein biologischen Akt beschränkt.“ Er drehte sich zu ihr um. Es war ihm egal, dass sie den Schmerz in seinen Augen sehen konnte. „Ich dachte, ich verbringe den Winter damit, einen Crashkurs im Major-League-Baseball zu absolvieren, aber was ich wirklich brauche, ist ein Crashkus im Vatersein. Ich habe keine Ahnung, was ich da tun muss.“
„Tja, wissen Sie was? Sie haben keine Zeit für einen Crashkurs. AJ braucht seinen Vater jetzt. Machen Sie sich keine Gedanken darüber, es perfekt hinzubekommen. Manchmal muss man einfach nur da sein. Nur das sein, was er braucht.“
Er mochte es, wenn sie ein wenig streng wurde, so wie im Moment. „Ich weiß, Coach. Wieso sind Sie nur so klug?“
„Ich bin nicht klug.“
Er musterte ihr Gesicht, das selbst dann hübsch war, wenn sie ernst schaute. Sie war geschminkt – dezent, aber gekonnt –, trotzdem sah er das langsam verblassende Veilchen unter ihrem linken Auge. Das Make-up verdeckte es ganz gut, allerdings wusste er, wie eine Frau aussah, die versuchte zu verbergen, dass sie von jemandem geschlagen worden war. Ihm war klar, sie würde wütend werden, falls er etwas sagte, also ließ er es bleiben.
Sie kehrte in die Küche zurück. „Kommen Sie. Ich gebe einen Kaffee aus.“
„Warum sind Sie so nett zu mir?“
„Weil Sie und AJ mir leidtun.“
„Heißt das, Sie beginnen mich zu mögen? Wenigstens ein kleines bisschen?“
„Das heißt, dass Sie mir leidtun.“
Okay, dachte er. Von einer Frau wie ihr nahm er, was er kriegen konnte. „Ich wünschte, ich könnte einfach mit dem Zauberstab wedeln, und all sein Ärger wäre weg.“
„Wenn Sie das täten, wären Sie kein Vater, sondern eine Comicfigur oder ein Superheld oder so. Hören Sie, AJ muss zur Schule, egal was. Sobald er die erste Verlegenheit überwunden hat, ist alles gut.“
„Ja, aber …“
Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. Es war das erste Mal, dass sie ihn absichtlich berührte, und es hatte einen umwerfenden Effekt auf ihn. Diese warme, lebendige Verbindung mit ihr gab ihm das Gefühl, dass er mit seinen Problemen nicht ganz so alleine war, wie er dachte. Er hoffte nur, sie merkte es nicht. Sie würde es vermutlich für seltsam halten.
„Hören Sie auf, sich Sorgen zu machen“, sagte sie. „Alles wird gut.“
Auf dem Weg warf AJ heimlich einen Blick zurück auf das große, bunte Haus. Bo stand nicht mehr in der Tür, vermutlich hatte er sie erleichtert hinter sich zugemacht. Er wusste, dass sein Vater es kaum erwarten konnte, ihn wieder los zu sein.
An der Bushaltestelle, die aus einer Bank mit einem Dach darüber bestand, warteten schon ein paar Kinder. Er hörte sie
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