Nur wenn du mich hältst (German Edition)
reden, zwei Jungen und ein Mädchen, ihr Geplapper wurde gelegentlich von einem Lachen unterbrochen. Ihr Atem stand wie Sprechblasen in Comics vor ihren Gesichtern.
Sie hatten ihn noch nicht gesehen. Im frühen Morgenlicht war er beinahe unsichtbar. Er fühlte sich wie ein Spion, der durch die Schatten schlich und von den Stämmen der Bäume am Wegesrand verborgen wurde.
Das tiefe Grollen eines Dieselmotors erklang, und der Bus bog auf die King Street ein. Er war hinter ihm her. Seine eulenaugenartigen Lichter glitten wie Suchscheinwerfer über die Landschaft. Ohne wirklich darüber nachzudenken, drückte AJ sich eng an einen Baumstamm, der zweimal so breit war wie er selbst. Er blieb stehen und atmete nicht mal, damit seine Atemwolke ihn nicht verriet.
Wenn er den Bus noch kriegen wollte, musste er sich beeilen, trotzdem rührte er sich nicht. Nicht einmal, als er das Zischen der Bremsen und das Quietschen der sich öffnenden Türen hörte. Ein paar Minuten später klappten die Türen zu, und der Bus fuhr in eine Abgaswolke gehüllt davon. Verschneite Stille senkte sich herab, und AJ stieß vorsichtig den Atem aus, den er die ganze Zeit über angehalten hatte. Oh man, was hatte er getan? Schwänzte er etwa die Schule? Wann hatte er diese Entscheidung getroffen? Er hatte noch nie in seinem Leben geschwänzt. Niemals. Nicht, weil er die Schule so sehr mochte, sondern weil er keinen Ärger haben wollte, und Schule zu schwänzen bedeutete Ärger.
So hatte er zumindest bis jetzt gedacht, doch nun sah er einiges in anderem Licht. Sobald die eigene Mutter verhaftet worden war, kam einem so etwas wie Schuleschwänzen auf einmal gar nicht mehr wie eine große Sache vor.
Kalter Wind blies ihm Schneeflocken ins Gesicht, die wie kleine Nadeln stachen. Er hatte keinen Plan, denn er hatte aus einem Impuls heraus gehandelt. Eins wusste er jedoch – er konnte nicht herumstehen, bis er zu einem menschlichen Eis am Stiel gefroren war, und darauf warten, dass die Sonne herauskam.
Er konnte aber auch nicht nach Hause zurückgehen. Ganz abgesehen davon, dass Fairfield House kein wirkliches Zuhause war, würde Bo ihn sofort in sein Auto setzen und mit ihm zur Schule fahren. Sich wie ein Vorschüler bringen zu lassen und dann noch zu spät zu kommen, würde eine schlimme Situation nur noch schlimmer machen.
Mit einer Hand suchte er nach der Tasche seines Rucksacks. Am Abend zuvor hatte er einige Landkarten und Informationen aus dem Internet herausgesucht und dort hineingesteckt. Vielleicht hatte sich da der Plan schon unbemerkt abgezeichnet. Den Kopf gegen den Wind gesenkt, ging er los. Selbst eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt, hieß es.
Die Stadt war ihm fremd, aber er wusste so ungefähr, wenn er sich den Hügel hinunter Richtung See hielt, würde er irgendwann im Zentrum ankommen. Da gab es Läden und Restaurants, das Rathaus und die öffentliche Bibliothek.
Und den Bahnhof.
Laut Bo fuhren von dort täglich Züge nach New York City.
Sein Herzschlag beschleunigte sich, genau wie seine Schritte. Er hatte immer noch keinen Plan. Er wusste, es war verrückt, er war vollkommen unvorbereitet. Er hatte nichts dabei als seinen Rucksack voller Schulsachen, die Karte, eine Wegbeschreibung und vierzig Dollar.
Vermutlich war das mehr, als seine Mom bei ihrer Verhaftung gehabt hatte.
Es war nicht schwer, sich in der kleinen Stadt zurechtzufinden. Im Hintergrund lag der große weiße See, den die aufgehende Sonne in rosafarbenes Licht tauchte. Wenn Bo ihn nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, hätte er ihn nicht als See erkannt, zugefroren, wie er war. Der Schnee lag wie eine Decke darüber, so kalt und wunderschön, dass es in den Augen wehtat. Beim näheren Hinsehen bemerkte er Hinweise auf den Willow Lake. Zum Beispiel die Häuser mit den Stegen, die in die weiße Fläche hinausragten. Er kam an einem verlassenen Park vorbei und sah einen Hochstuhl, an dem ein Schild hing: „Rettungsschwimmerstation derzeit nicht besetzt.“
Bald erreichte er das Stadtzentrum. Die Straßenbeleuchtung ergab sich dem Tageslicht und erlosch. Ein paar Restaurants hatten schon geöffnet, und in der Sky River Bakery wimmelte es von Leuten, sodass die Schaufenster beschlagen waren. Trotz der köstlichen Düfte, die aus der Bäckerei wehten, ging AJ unbeirrt weiter. Er sah den Bahnübergang und folgte den Schienen ein kurzes Stück bis zum Bahnhof.
Okay, dachte er und mischte sich unter den Strom von Pendlern, die auf das
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