Nybbas Träume - Benkau, J: Nybbas Träume
es wohl war, doch ihre Tante hatte immer nur gelächelt, wenn sie sie darauf angesprochen hatte.
„Wir haben uns viel zu lange nicht gesehen, Schätzchen“, tadelte Agnes und Joana musste zugeben, dass sie recht hatte.
Fast ein Jahr war seit ihrem letzten Treffen vergangen, dabei lebte Agnes in Schwerin, was keine zwei Stunden Fahrt bedeutete. Sie fragte sich, wann das lockige Haar ihrer Tante so stark ergraut war. Ihr war, als hätte Agnes beim letzten Treffen noch dunkelbraunes Haar gehabt.
Als Mary mit dem Essen den Raum betrat, war Joana dankbar für die Ablenkung und beeilte sich, den Tisch fertig zu decken.
„Eine afrikanische Spezialität“, stellte Mary klar, als alle am Tisch saßen.
Ob sie Agnes anlächelte oder ihr die Zähne zeigte, vermochte Joana nicht zu sagen. Um kein betretenes Schweigen entstehen zu lassen, mimte sie während des Essens wie üblich den Alleinunterhalter. Sie ließ ein paar Anekdoten ihrer Fahrgäste verlauten, regte sich gekünstelt über ihre neugierige Nachbarin auf, lobte das Hühnchen und flüchtete sich schließlich in nahezu verzweifelte Bemerkungen über das Wetter. Es war lächerlich.
Ihre Mutter rollte ihr Elfenbeinamulett zwischen den Fingern und strahlte dabei Provokation in solcher Penetranz aus, dass man es fast riechen konnte.
Agnes setzte dem ihre stoische Gelassenheit entgegen. Sie lächelte falsch über den Rand ihrer Brille, ließ ihren Blick immer wieder abfällig über jede unordentliche Ecke in dem gemütlichen Wohnzimmer schweifen und tat gar nicht erst so, als würde sie sich wohlfühlen.
Ein stummes Kräftemessen. Joana war dieses Verhalten seit ihrer Kindheit vertraut. Ebenso lange empfand sie es schon als albern und unnötig.
Ihre Mutter war der festen Überzeugung, dass Agnes sie nie als gut genug für Frederik befunden hatte und machte das an ihren afrikanischen Wurzeln fest. Agnes dagegen fühlte sich vom versteckten Vorwurf des Rassismus beleidigt. Keine der beiden Frauen war zum Gespräch bereit. Joana vermutete, dass sie ihre Antipathien über die Jahrzehnte hinweg so liebgewonnen hatten, dass sie gar nicht mehr willens waren, sie je abzulegen. Wer von beiden im Recht war, wagte sie nicht zu beurteilen. Dass Agnes Mary nicht respektierte war offensichtlich, aber Joana weigerte sich, dies an der Hautfarbe festzumachen. Sie hatte schließlich auch keinerlei Probleme mit Agnes. Als Mischlingskind besaß sie eine nicht ganz so dunkle Haut wie ihre Mutter. Mit ihren tiefbraunen, großen Augen und der wellenähnlichen Linie, die Stirn, Schläfe, Wange und Kinn modellierte, war sie Mary dennoch wie aus dem Gesicht geschnitten. Auch die Neigung, jedes Stück Schokolade auf den Hüften wiederzufinden, hatte ihre Mutter ihr dankenswerterweise vererbt. Das Erbgut ihres Vaters hatte lediglich dafür gesorgt, dass sie Mary um einen knappen Kopf überragte. Auch ihre Liebe zur Musik und schnellen Autos schrieb man Frederik Sievers zu. Joana seufzte lautlos und verbot sich die Frage, was er ihr ansonsten noch überlassen haben könnte. Vielleicht den Hang, in sinnlose Überlegungen abzuschweifen.
Wie es ihre Art war, fuhr Agnes gleich nach dem Dessert wieder nach Hause. Die Tür war noch nicht ganz zu, da riss sich Mary schon das Tuch vom Kopf und seufzte erleichtert.
„Ich bete den Herrn auf Knien um den Tag an, an dem sie uns leid sein wird.“
Joana schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Du könntest ihr einfach sagen, dass du keine Lust auf ihre Besuche hast.“
„Das könnte ich wohl.“ Marys Stimme war tonlos und ließ erkennen, dass es nicht so einfach war, wie Joana es gern hätte.
„Wirklich, Mama, ich meine es ernst. Agnes kann auch mal zu mir zum Essen kommen, oder ich besuche sie. Mir will nicht in den Kopf, warum wir uns immer bei dir treffen müssen, wenn dir das zuwider ist.“
Mary setzte zu einer Antwort an, schloss den Mund aber gleich wieder und rieb sich die Stirn. Für einen Moment wirkte sie bekümmert und sah viel älter aus, als sie war. Dann schüttelte sie den Kopf und das Lächeln, das Joana so liebte, legte sich auf ihre Züge.
„Vergessen wir es einfach. Erfahrungsgemäß meldet sie sich jetzt monatelang nicht. Komm, lass uns mal schauen, wie viel wir vom Nachtisch noch runter bekommen, ohne dass uns schlecht wird.“
„Herr Nyrr?“ Die monotone Stimme seiner Sekretärin Christina ließ Nicholas von seiner Zeitung aufsehen. „Die Testergebnisse sind da.“
Er hätte gern an ihrer Reaktion erkannt, ob die
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