Ob das wohl gutgeht...
und seine berufliche Laufbahn zu befragen. Hilfreich war dabei, daß er perfekt Englisch sprach und äußerst korrekte Antworten gab, bis ich ihn fragte, wie viele Brüder und Schwestern er habe.
»Brüder und Schwestern?« Er blickte mich erstaunt an.
»Ja, Sie wissen schon... Brüder... und Schwestern.«
Er schien nachzudenken.
»Nun?« drängte ich ihn.
Er zuckte die breiten Schultern und blickte zur Decke.
»Haben Sie überhaupt Brüder und Schwestern?«
Er nickte mehrmals.
»Nun, wie viele denn?« Meine Feder war gespitzt.
Er zuckte wieder die Achseln. »Siebzig, achtzig, vielleicht weniger, vielleicht mehr.«
»Brüder und Schwestern?«
»Brüder und Schwestern.«
Plötzlich fiel mir ein, daß er Moslem war, sein Vater vermutlich mehrere Frauen hatte und es deshalb verständlich war, wenn meine Frage ihm Schwierigkeiten bereitete.
Ich vervollständigte seinen Lebenslauf nach dem Schema, das Toby mir beigebracht hatte, und forschte dann nach der Art des Problems, das der Patient hatte:
»Ich kann nicht lieben.«
Ich schrieb >Impotenz< nieder und sagte:
»Warten Sie eine Minute. Sie haben mir erzählt, daß Ihre Frau im Mittleren Osten lebt und daß Sie sie in den letzten sechs Monaten nicht gesehen haben.«
Er rückte mit dem Stuhl näher zu meinem Schreibtisch und lehnte sich hinüber, bis sein Gesicht dicht vor dem meinen war. Ich überlegte, was er wohl vorhatte.
»Doktor«, sagte er leise, »in meinem Land pflegt man zu sagen: Wenn du einen Wagen hast, ist es ratsam, einen Ersatzreifen mitzunehmen...«
Ich dachte einen Augenblick nach, bis der Groschen fiel.
»O ja, ganz richtig«, sagte ich. »Sehr vernünftig. Jawohl.«
Ich war sehr erleichtert, als ich feststellte, daß mein nächster Patient unsere alte Freundin Mrs. Nuttall war, der wir behilflich waren, mit ihrer Platzangst fertig zu werden. Ehe ich mit Toby arbeitete, hatte ich Platzangt für eine recht triviale Beschwerde gehalten, zumal sie oft ein Gegenstand von Witzen ist. Ich hatte während der Wochen in St. Markus jedoch feststellen müssen, daß sie sehr verbreitet und eine außerordentlich unangenehme Krankheit ist, da sie nicht nur die Leidenden selbst, sondern auch ihre Familien in Mitleidenschaft zieht. Männer und Frauen waren häufig jahrelang unfähig zu arbeiten. Verheiratete Hausfrauen wurden von einem normalen Leben abgehalten, weil sie Angst vor öffentlichen Verkehrsmitteln, vor dem Gang zur Haltestelle und vor dem Warten auf den Omnibus und Angst vor Straßenkreuzungen hatten und deshalb zu Hause bleiben mußten. Mrs. Nuttall war unfähig gewesen, ihre Wohnung zu verlassen. Als sie zum erstenmal in Tobys Sprechstunde kam, hatte sie sich nicht weiter als bis zum Gartentor gewagt, nun brachte sie es schon fertig, bis zum nächsten Laden zu gehen und sogar ernstlich an eine Urlaubsreise zu denken, etwas, das sie seit dem Beginn ihrer Krankheit vor zwanzig Jahren nicht mehr getan hatte. Sie kam lächelnd herein.
»Ich bin zu Selfridges gegangen und habe eine Glückwunschkarte gekauft«, sagte sie. Für einen Nichteingeweihten mochte dies eine Leistung sein, die nicht der Erwähnung wert war, für Mrs. Nuttall aber bedeutete das viel.
Daphne kam bald darauf herein und verkündete, es sei sechs Uhr und ich hätte den letzten Patienten gesehen; ich konnte einfach nicht glauben, daß die Zeit so rasch vergangen war und daß ich allein mit den Patienten fertig geworden war.
Ich kam mir wie ein Wundertier vor, als ich den Korridor entlanglief, wo ich den Professor bemerkte, der mir entgegenkam. Er schien durch mich hindurchzusehen, aber einen Moment später fühlte ich ein Zupfen an meinem Mantel.
»Oh, hm, Toby hält sehr viel von Ihnen«, sagte der Professor. »Vielen Dank, daß Sie sich der Sache angenommen haben.«
Ich sah ihm nach. Hatte er tatsächlich das Wort an mich gerichtet oder hatte ich vielleicht nur geträumt? Ich berührte den so geheiligten Saum meines Mantels und vermutete, daß ich in der Psychiatrischen Abteilung von St. Markus nunmehr akzeptiert wurde.
»Es ist eine doppelte Feier geworden«, sagte Caroline, als sie uns die Tür zur Party öffnete, auf der Sylvias Buch gefeiert werden sollte. »Kommt herein, meine Lieben! Bläschen hat sein Buch auch fertig.«
Ich empfand dadurch einen gewissen Trost, wobei mir klarwurde, wie sehr mir daran gelegen gewesen war, daß Faraday die Kraft finden möchte, bis zur Erfüllung seines Wunsches auszuhalten. Während der vergangenen Wochen hatten
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