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Oberst Chabert (German Edition)

Oberst Chabert (German Edition)

Titel: Oberst Chabert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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umhergeirrt wie ein Landstreicher, ich bettelte um mein Brot, als ein Irrer wurde ich verlacht, so oft ich meine Abenteuer erzählte, und nie hatte ich die paar Pfennige, um mir die Akten zu verschaffen, die meinen Bericht beglaubigen und mich der menschlichen Gesellschaft zurückgeben konnten. Oft genug kam's vor, daß mich meine Schmerzen ein halbes Jahr in einer Kleinstadt zurückhielten, wo man zwar dem kranken Franzosen Hilfe nicht versagen mochte, aber man sparte deshalb doch nicht mit Spott gegen den, der Oberst Chabert sein wollte. Lange Zeit versetzte mich dieses Lachen, dieser Spott in Wut und Raserei, was mir sehr geschadet hat. Das war der Grund, weshalb man mich in Stuttgart wie einen Tollhäusler hinter Schloß und Riegel gebracht hat. Um die Wahrheit zu gestehen, Sie werden dies nach meiner Erzählung begreifen, wird es immer Gründe gegeben haben, einen Mann wie mich einsperren zu lassen. Zwei Jahre Gefangenschaft mußte ich erdulden, tausendmal und mehr mußte ich von meinem Wärter die Worte hören: ›Ein armer Irrer, er bildet sich ein, er sei der Oberst Chabert!‹ Und man antwortete ihm: ›Ja, sehr arm und mitleidswert.‹
    So wurde ich überzeugt, daß mein Schicksal nie wirklich sich begeben; ich wurde traurig, still, nannte mich nicht mehr den Obersten Chabert, bloß um aus der Haft zu entkommen, Frankreich wiederzusehen. Oh, Paris! Paris! Welch ein Traum...«
    Er setzte den Satz nicht fort, versank in tiefes Brüten. Derville störte ihn nicht.
    »Eines schönen Tages im Frühjahr«, fuhr er fort, »gab man mir den Laufpaß und zehn Taler, indem man vorgab, ich spräche schon sehr vernünftig und nenne mich nicht mehr Oberst Chabert. Ich schwöre es, damals und auch jetzt, manchmal wenigstens, ist mir mein Name verhaßt. Ich will nicht mehr ich sein. Mein Recht tötet mich. Hätte mir meine Krankheit doch alle Erinnerung an einst genommen, ich wäre glücklich gewesen, hätte unter irgendeinem Namen mich zum Dienste im Heer gemeldet und wäre, kann man es wissen, heute Feldmarschall in Rußland oder Österreich.«
    »Mein Herr,« sagte der Advokat, »Sie bringen alle meine Gedanken durcheinander. Ich glaube zu träumen. Bitte, halten Sie einen Augenblick inne.«
    Traurig antwortet der Oberst: »Sie sind der einzige, der mich je ruhig angehört hat. Kein Rechtsanwalt wollte mir die zehn Goldstücke vorstrecken, um aus Deutschland die Papiere für meinen Prozeß holen zu lassen.«
    »Welchen Prozeß?« fragte der Anwalt, der während der Erzählung seines Klienten völlig die jammervolle Situation vergessen hatte, worin sich der Arme befand.
    »Aber, mein Herr, ist denn die Gräfin Ferraud nicht meine Frau? Sie besitzt eine Rente von dreißigtausend Franken und gibt mir nicht einen Heller. Und nun, wenn ich dies einem Rechtsanwalt, einem Menschen mit gesundem Menschenverstand sage, wenn ich vorschlage, ich, der Bettler, gegen einen Grafen und eine Gräfin gerichtliche Klage zu erheben, wenn ich, der Tote, mich erhebe, gegen eine Todeserklärung, einen Heiratspakt und gegen Geburtsdokumente, dann setzt man mich vor die Tür, entweder mit eiskalter Höflichkeit, Sie kennen diese Art, sich eines Unglücklichen zu entledigen, oder brutal, wenn man glaubt, ich wäre ein Intrigant oder ein Irrer. Ich war unter Toten begraben, nun bin ich's unter Lebenden, unter Akten, Tatsachen, unter der ganzen Gesellschaft, die nichts anders will, als mich von neuem begraben.«
    »Bitte, wollen Sie nun fortfahren«, sagte der Anwalt.
    »Wollen Sie!« rief der unselige Alte und riß die Hand des jungen Mannes an sein Herz, »das erste höfliche Wort, das ich höre, seit...«
    Der Oberst weinte. Dankbarkeit erstickte seine Stimme. Es gibt eine unwiderstehliche Beredsamkeit des Blickes und der Gebärde, im Schweigen selbst, die nie lügt. Sie überzeugte den Anwalt und rührte ihn tief.
    »Hören Sie, mein Herr,« sagte er seinem Klienten, »heute abend habe ich im Spiel dreihundert Franken gewonnen. Ich kann gut und gern die Hälfte der Summe dem Glück eines Menschen opfern. Ich werde die Untersuchung beginnen, werde vor allein Maßnahmen treffen, Ihnen die nötigen Unterlagen und Akten, von denen Sie eben sprachen, zu verschaffen. Bis die Protokolle ankommen, gebe ich Ihnen fünf Franken täglich. Sind Sie der Oberst Chabert, werden Sie die Geringfügigkeit der Summe entschuldigen bei mir, der sein Vermögen erst noch erwerben will. Fahren Sie fort.«
    Der vorgebliche Oberst blieb einen Augenblick lang starr und

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