Objekt Lambda
Stunden donnernder Beschleunigung und den kürzeren Perioden fieberhafter Aktivität kam Pertin zu keinem wirklich erholsamen Schlaf mehr. Er war ständig erschöpft, und jeder Knochen schmerzte. Die Berichte an Sonne I wurden immer mehr zur Anstrengung. Die Wartezeit von zwölf Stunden zwischen Sendung und Empfang wirkte sich sehr ungünstig aus. Bis er eine Antwort auf seine Meldung über den Bombenanschlag hatte, war er schon fast vergessen, da inzwischen alles ruhig geblieben war. Manchmal sprach der andere Ben Pertin zu ihm. Das war schlimm genug, doch am ärgsten nahm es ihn mit, als Gerald York Bielowitz am Ende seiner Anweisungen nebenbei erwähnte, daß Zara Doy und Ben Charles vor drei Stunden geheiratet hatten. Er erinnerte sich daran, daß er die Stereobühne ausgeschaltet hatte. Er lag wie erschlagen, während der Kokon ihn massierte und die Schmerzen zu lindern suchte. Irgendwann schlief er schließlich doch ein. In seinem Traum war er Ben Charles, der Zara Doy geheiratet hatte. Sie waren berauscht vom Wein und von einander, aber sie unterhielten sich auch ein wenig bedrückt über jenen anderen Pertin, der eifrig damit beschäftigt war, in einem fremden, eine Galaxis entfernten Raumschiff zu sterben. Als er aufwachte und sich bewußt wurde, daß er dieser andere Ben Pertin war, erfüllte ihn unbeherrschte Wut.
Doc Chimp hatte ihn aus dem Traum gerissen. »Chef«, wimmerte er. »Wachen Sie auf. Ich humple schon seit einer Ewigkeit in diesem verdammten Höllenschiff herum und suche nach dem Skorpioroboter …«
»Oh, halt die Klappe«, knurrte Pertin durch den Außenlautsprecher seines Kokons. Sein Ton ließ den Chimp erschrocken zurückfahren. Er kauerte sich zusammen und starrte ungläubig auf die Sichtscheibe. Gegen seinen Willen fielen Pertin die wunden Hände und Füße auf, aber er wollte in seinem eigenen Elend Doc Chimp nicht bedauern. Schließlich war der Schimpanse auf dem Schiff, weil er die sich ständig verändernde Schwerkraft ertragen konnte. Also war es seine Pflicht zu tun, was er, Pertin, nicht zu tun imstande war, solange er in seinem Kokon gefangen lag.
»Sicher halte ich die Klappe«, brauste der Chimp jetzt auf. »Warum auch nicht. Wir werden sie bald alle halten. Tote sind ziemlich still.«
Pertin kämpfte gegen seinen eigenen Ärger an. »Natürlich werden wir alle sterben. Aber welche Rolle spielt das schon? Glaubst du vielleicht, das hier ist richtiges Leben? Auf Sonne I lebten wir wirklich. Hier existieren wir nur in einem Alptraum.«
Jetzt wimmerte der Chimp wieder. »Ben James, ich bin müde und völlig fertig. Wenn ich etwas Verkehrtes gesagt habe, dann verzeihen Sie. Ich gehe also jetzt und komme später wieder, aber …«
»Also, verschwinde schon!« schnaubte Pertin und schaltete den Kommunikator aus.
Das haarige Gesicht starrte kummervoll zu ihm hinein. Doc Chimp war durchaus kein Dschungelaffe. Seine Schädelform war anders, die Struktur seiner Atmungsorgane, ja selbst die Zusammensetzung seines Blutes war anders. Aber menschlich war er auch nicht. Er war eines der mutierten Tiere, die zu bestimmten Zwecken in den Biomolekularfarmen auf der Erde gezüchtet wurden. Seine Hände und Füße, mit denen er gleich geschickt umgehen konnte, waren besonders im freien Fall sehr nützlich, wenn er ohne jegliche Mühe mit beiden hantieren und sich im Sprung abfangen konnte, während Menschen wie Pertin vielleicht hilflos herumwirbelten. Aber er hatte auch seine Nachteile.
Ein Schimpanse ist eben kein Mensch. Seine Physis steht ihm im Weg. Er kann das leistungsfähige Gehirn eines Menschen nicht entwickeln, weil sein Schädel nicht die richtige Form dafür hat, und weil die Zusammensetzung seines Blutes keine ausreichende Versorgung des Gehirns bei größerer Beanspruchung durch abstraktes Denken gewährleistet. Er kann nicht sprechen, weil ihm die physische Ausrüstung fehlt, die unterschiedlichsten Phoneme der menschlichen Sprache zu formen. Aber die Molekularbiologen fanden einen Ausweg. Sie weiteten, beispielsweise, den Winkel eines Schädelteils und erlaubten so die Ausrundung der gesamten vorderen Gehirnlappen. Sie formten Zunge und Gaumen um; ja fügten sogar dem Blut eine neue Serumkomponente wie die alpha-2-Globuline zu, die das menschliche Hämoglobin binden.
Mit anderen Worten, bei Doc Chimp und seinen Verwandten war die Evolution beschleunigt worden. Vor zwei Generationen konnten Chimps Vorfahren lediglich ein paar der einfachsten Wörter formen und ein paar
Weitere Kostenlose Bücher