Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
das nur sporadisch geschehen. Die Manuskripte wurden auf den verschiedensten, vorher genau geprüften Wegen aus dem Land geschmuggelt. Man mußte sicher sein, daß niemand in der Sowjetunion dadurch gefährdet wurde und daß es sich nicht um eine Falle handelte. Löwenthal spießte mit der Gabel eine eingelegte Pflaume auf und schob sie in den Mund. Dann sprach er weiter, noch bevor er heruntergeschluckt hatte: »Deshalb ist diese Geschichte so phantastisch, denn 1956 wußte ich noch gar nichts. Vielleicht hätte ich, wenn ich gewußt hätte, was ich heute weiß, Ferbers Manuskript nicht herausgeschmuggelt. Nur ein Idiot oder ein Verrückter konnte tun, was ich damals getan habe.« Er hielt inne, ein Schauer lief über seinen Körper, dann fuhr er fort zu erzählen, als verteidige er sich vor einem Historikerausschuß. Heute gebe es Wege, Manuskripte herauszuschmuggeln, über die er aus verständlichen Gründen nicht detailliert sprechen könne. Ein Beispiel, sagte er und wischte sich mit der weißen Serviette über die Lippen, sei die Verbindung, die er in Italien über antisowjetische linke katholische Aktivisten geknüpft habe, deren Sitz in Mailand sei. Einer von ihnen sei ein italienischer Bibliothekar aus Bologna gewesen, sagte Löwenthal mit verträumter Stimme. Persönlich kenne er nur diesen Bibliothekar, der die Möglichkeit habe, Briefe in die Sowjetunion zu bringen und umgekehrt. Löwenthal erhielt Post in den Vereinigten Staaten, ein Päckchen, das aus Bologna an seine Privatadresse geschickt wurde, und mußte dann das genaue Datum mitteilen, an dem die Sendung angekommen war.
Wem er das mitteilen müsse, fragte Michael.
Dem Schriftsteller in Bologna. Er teile auch mit, ob das Manuskript in gutem Zustand angekommen sei. Und nachdem er es von russischen Experten hatte prüfen lassen, gab er auch deren Beurteilung weiter. Nachdem diese Verbindung einmal zustande gekommen war, hatten ihn viele Manuskripte erreicht. Löwenthal lachte. »Sie werden es nicht glauben, aber es sind Manuskripte im Postsack des Vatikan geschickt worden. Der Vatikan hatte Vertreter in Moskau, und die haben alle möglichen Beziehungen aufgetan. Es gibt auch noch andere Wege, zum Beispiel über Journalisten. Sie haben die Möglichkeit, ihre Sachen mit dem diplomatischen Dienst ihres Landes zu schicken, manchmal sogar ohne daß die Angehörigen des Konsulats überhaupt davon erfahren. Es gab damals ein Arrangement mit Amerikanern, die mir dann die Manuskripte gebracht haben. Manchmal war es ein Reporter, manchmal sogar jemand vom CIA, und manchmal jemand vom russischen Stab im State Department.«
Er machte eine Pause, um sein Huhn fertig zu essen. Dann sprach er mit neuem Eifer weiter: »Es gibt noch eine Methode. Leute, die oft in die Sowjetunion gefahren sind, wie zum Beispiel eine Frau, die ich kennengelernt habe, eine schwedische Biologin mit Namen Perla Lindborg. Sie fuhr ein paarmal im Jahr hin und schickte mir das Material dann aus Stockholm. Ich kann ihren Namen ruhig sagen, weil sie inzwischen gestorben ist. Und es gab einen österreichischen Arzt, der mir Sachen aus Wien schickte. Es geht auch über Hongkong, aber ...« Löwenthal schwieg. Er betrachtete Michael nachdenklich und sagte, inzwischen sei er glaubwürdig. Ein Beweis für seine Glaubwürdigkeit sei gewesen, daß einige aus der Sowjetunion geflohene Juden Manuskripte mitgebracht und ihm übergeben hätten. Löwenthal hob den Zeigefinger. »Es gibt Dinge, auf die Sie nie im Leben kommen würden«, sagte er. »Haben Sie gewußt, daß der CVJM in Paris geschmuggelte Manuskripte druckt?« Ohne Michaels Reaktion abzuwarten, erzählte er, es gebe einen antisowjetischen Verlag in Frankfurt, der Manuskripte aus der Sowjetunion schmuggele, die Einnahmen würden bei einer Schweizer Bank für den jeweiligen Autor deponiert. 1972 sei er, Löwenthal, nach Frankfurt gefahren und habe den Leuten dort Geld gegeben. Sie hätten das Geld auf geheimen Wegen in die Sowjetunion geschleust, zu den Autoren der Manuskripte, Gelder, die ihnen zustünden. Danach, sagte Max Löwenthal, gab es schon keine Probleme mehr mit der Glaubwürdigkeit. Als er 1973 in die Sowjetunion gefahren sei, wußten schon alle, daß man sich auf ihn verlassen konnte. Sogar Andrej Sacharow habe ihn angerufen und hatte sich mit ihm treffen wollen. Warum er das alles erzähle? fragte Löwenthal. »Wollen Sie es wissen? Damit Sie verstehen, um was für ein kompliziertes Gebäude es sich hier handelt, wie es
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