Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
mit einem Achselzucken hinzu, das seine Haltung diesen Gedichten gegenüber ausdrückt.
Ruchama erinnerte sich gut an das lange Interview, das sich zu einem regelrechten Wortduell zwischen beiden entwickelte. Und als sie vorhin, vor dem Abendseminar, Dawidow neben dem Fotografen hatte stehen sehen, hatte sie sofort ein Gefühl der Spannung empfunden. Jetzt betrachtete sie konzentriert Tiroschs Gesicht über der grünen Decke und dem Wasserkrug, eine Dekoration, die sie an Kulturabende im Speisesaal des Kibbuz erinnerte, und sie bemerkte den gespannten Ausdruck, den sie inzwischen so gut kannte, diese Mischung aus Erregung und Theatralik, und obwohl sie von ihrem weit entfernten Platz seine Augen nicht genau sah, konnte sie sich das grüne Blitzen in ihnen gut vorstellen.
Als sich Tirosch erhob, um seine Worte zu unterstreichen, sah auch sie die Bewegung seiner Hand zu der silbernen Haartolle, dann seinen lockeren Griff nach dem Buch. Tuwjas Gesicht konnte sie anfangs nicht sehen, zwischen ihm und ihr bewegten sich der Fotograf und der Tontechniker des Rundfunks, der zum hundertsten Mal das Aufnahmegerät kontrollierte.
Später, als sie gezwungen war, sich den kurzen Film anzuschauen, konnte sie die Tränen nicht zurückhalten, als sie sah, wie genau und klar die Kamera die Kultiviertheit Scha'ul Tiroschs erfaßt hatte, seine betont gelassene Haltung, die Hand in der Tasche und die roten Schattierungen seiner Krawatte, die sich gegen den strahlendweißen Hintergrund seines Hemdes abhob und die er vermutlich ausgewählt hatte, um eine gewisse Harmonie zu dem strahlenden Rot der Nelke herzustellen, die sein Jackett zierte.
Immer hatte Ruchama Konzentrationsschwierigkeiten, vor allem, wenn Tirosch der Vortragende war, doch es gelang ihr, seine einführenden Sätze aufzunehmen: »Meine verehrten Damen und Herren, unser letztes Seminar in diesem Jahr gilt dem Thema ›Ein gutes Gedicht, ein schlechtes Gedicht‹. Ich spüre durchaus das Aufkommen einer gewissen Erregung bei der Vorstellung, es könne – theoretisch – die Möglichkeit geben, heute, an diesem Abend, klare, eindeutige Kriterien dafür zu finden, was an einem Gedicht gut und was schlecht ist. Doch ich muß Sie warnen, ich bezweifle, daß wir zu einer Übereinstimmung kommen. Ich bin neugierig, welchen Standpunkt meine Kollegen einnehmen, die hier bei uns sind, ich bin neugierig und zugleich skeptisch.« Die Kamera hatte auch den ironischen, amüsierten Blick aufgefangen, mit dem er aus seiner Höhe das Gesicht Tuwjas streifte, und dann den forschenden Blick, mit dem er Ido Duda'i musterte, der mit gesenktem Kopf dasaß.
Ruchama verlor den Faden. Es gelang ihr nicht, die folgenden Worte im Zusammenhang zu verstehen, doch sie bemühte sich auch nicht darum. Sie gab sich der Stimme hin, der weichen Melodie.
Im Saal herrschte Stille. Die zu spät Gekommenen standen an der Tür, und alle Augen waren auf ihn gerichtet, auf Scha'ul Tirosch. Da und dort war ein erregtes Lächeln zu bemerken, vor allem auf den Lippen weiblicher Zuhörer. Neben Ruchama saß eine junge Frau, die jedes Wort mitschrieb. Als sie aufhörte zu schreiben, bemerkte Ruchama am rhythmischen Klang seiner Stimme, daß Tirosch ein Gedicht las. Ausgerechnet Bialiks Gedicht Mir ist nichts geschenkt worden.
Sie hörte den schweren Atem Aharonowitschs hinter ihrem Rücken und das Rascheln der Blätter, die er in der Hand hielt. Sein Füllfederhalter war bereit, mitzuschreiben, während die anderen noch einen Platz suchten. Die Blätter legte er auf seine braune, abgenutzte Ledertasche, die untrennbar mit ihm verbunden war und aussah wie ein alter Schulranzen. Aharonowitsch roch ein wenig säuerlich, und dieser Geruch vermischte sich mit dem Duft des Parfüms seiner Nachbarin Zipi Lev-Ari, seine junge, vielversprechende Assistentin, deren Versuche, alle Spuren ihrer orthodoxen Vergangenheit zu tilgen, vermutlich der Grund für die leuchtenden Farben ihrer Kleidung, für die bunten, weiten Hemden waren, mit denen sie ihre Zugehörigkeit zu einer Sekte demonstrierte, deretwegen sie sogar ihren Namen geändert hatte.
Auf der linken Seite entdeckte Ruchama Sarah Amir, die älteste Professorin und eine der Grundsäulen des Fachbereichs, der es auch heute abend nicht gelang, den Eindruck einer Hausfrau zu vermeiden. Obwohl sie ihr bestes Kleid aus geblümter Seide angezogen hatte, das ihre prallen Oberschenkel eng umschloß und an ihrem faltigen Hals einen braunen Kragen hatte, verschwand der Geruch
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