Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
sich nicht mehr an die Tagung, da er ja direkt von Moskau dort hingekommen sei und die Eindrücke aus der Sowjetunion alles überlagert hätten. Scha'ul Tirosch, sagte Löwenthal stolz, sei der Mann gewesen, dem er die Gedichte übergeben hätte. Sie hätten in einem Café gesessen – er erinnerte sich sogar noch an den Geschmack des Strudels, jedoch nicht mehr an den Namen des Cafés –, und Tirosch habe sich nach seinen Eindrücken des Moskauer Festivals erkundigt. Schon damals habe er die Neigung gehabt, sich auf alle möglichen Risiken einzulassen, erklärte Löwenthal, deshalb habe er Tirosch die Gedichte gezeigt. Tirosch sei sehr erregt gewesen und habe sofort vorgeschlagen, die Gedichte mit nach Israel zu nehmen. Er erzählte, er arbeite an der Fakultät für Literatur an der hebräischen Universität und habe Beziehungen zu literarischen Kreisen. Er habe die kleinen Zettel mit so viel Liebe gehalten, daß es ihm, Löwenthal, klargewesen sei, daß sie bei ihm sicher waren. Tirosch habe ihm einige Zeilen übersetzt, und sogar er, Löwenthal, der nichts von Lyrik verstehe, sei beeindruckt gewesen von dem Reichtum der Gedichte. Er habe gewußt, daß er sich auf ihn verlassen konnte, wiederholte Löwenthal, und tatsächlich habe Tirosch die Gedichte ja auch redigiert und herausgegeben. Doch zu seinem Bedauern spreche er, wie Michael wisse, kein Hebräisch, deshalb habe er die Früchte der Anstrengung nicht genießen können.
An dieser Stelle hatte Michael das Aufnahmegerät ausgeschaltet und ihn gefragt, ob er Boris nicht das Buch gezeigt habe, das er von Tirosch erhalten hatte.
Einen Moment war es still geworden, dann sagte Löwenthal verlegen, er könne es nicht erklären, aber das Buch sei ihm vor einigen Jahren verlorengegangen. Fast flüsternd fügte er hinzu, er habe das Buch jemandem gezeigt, der Hebräisch lesen könne, sich aber nicht sonderlich beeindruckt gezeigt habe. Das sei wohl der Grund gewesen, sagte er verlegen, daß er ihm keine besondere Bedeutung mehr beigemessen habe. Er schwieg, bevor er hinzufügte, dieser junge Mann, Duda'i, habe versprochen, ihm ein neues Buch zu schicken.
Da zog Michael aus seiner Tasche das Buch, das er mitgebracht hatte, und reichte es wortlos an Boris weiter. Boris streichelte es erregt und liebevoll, dann schlug er es auf und blätterte darin. Vom Band kam nun nur das Rascheln von Papier.
Michael erinnerte sich sehr gut an den verlegenen Blick des Mannes, an die Verwirrung, die sich langsam auf seinem Gesicht ausgebreitet hatte, als er nicht die bekannten Worte gefunden hatte, die Worte, die er die ganzen Jahre in seinem Gedächtnis bewahrt hatte, die er auswendig wußte wie das Morgengebet. Ein paarmal wiederholte er »nein, das nicht«, und dann sagte er: »Dieser junge Mann, Duda'i, hat gesagt, daß es in Ordnung ist, daß alles in Ordnung ist.« Und Michael dachte daran, wieviel Selbstbeherrschung es Ido gekostet haben mußte, nicht alles aufzudecken und Boris nicht die Wahrheit zu sagen. Weder Boris noch Löwenthal.
Dann war vom Band die heisere Stimme Singers zu hören, mit einer Flut von Zitaten. Michael hörte wieder die bekannten Bilder, die so charakteristisch für Tiroschs Lyrik waren, auch den berühmten Satz: »Beim Morgengrauen verwelken die blauen Blumen auf deiner Haut«, auf genau die gleiche Art gesprochen, wie er es im kriminaltechnischen Labor gehört hatte. Eine Flut von Zitaten, auch: »Apollo erschien mir neben dem zerstörten Baum«, und Teile aus dem großen Poem »Über den ersten und den letzten Menschen«: »Unter der dünnen Haut verbirgt sich heißes Fleisch und das Blut...«, und »Im vergilbenden Gerippe des Menschen spielt der Staub eine süße Melodie«. Und dann hörte Michael seine eigene Stimme, wie er angespannt das zwanghafte Zitieren mit der Frage unterbrach, ob das die Gedichte seien, die Ferber geschrieben habe.
In diesem Moment brach der Zorn in dem Mann auf. »Was ist das hier?« wiederholte er ein paarmal weinend, und er stöhnte vor Schmerz.
Die weichen Lippen Löwenthals wurden hart, er packte Michael an den Armen und zerrte ihn hinaus.
Dort verlangte er energisch eine Erklärung für das, was Michael gesagt hatte, und schließlich fragte er, ob es sich um Diebstahl geistigen Eigentums handle, um Plagiat. Michael nickte.
Jetzt war das Band zu Ende.
Mitte der sechziger Jahre, erklärte Löwenthal, als sie im prachtvollen Speisesaal des Hotels saßen, kamen die ersten Manuskripte nach draußen, bis dahin war
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