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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Michael seine eigene Stimme, fragend und mit der Aussprache der im Land Geborenen, die sich so seltsam anhörte gegen das amerikanisch gefärbte Jiddisch Löwenthals und das russisch gefärbte Hebräisch Boris Singers.
    »Es gibt Orte«, hatte Singer wiederholt und ihn ängstlich angeschaut.
    Aber Michael blieb auf freundliche Weise beharrlich. Er rückte seinen Stuhl näher zu dem Bett des Kranken und wiederholte die Lüge, die sie abgesprochen hatten. Das Institut für jüdische Zeitgeschichte wolle alles dokumentieren, sie wollten auch ein Bild von Boris. Und langsam, als höre er nicht auf, sich zu fürchten, erzählte Boris seine Geschichte.
    Es gab alle möglichen Plätze, wo man Geschriebenes verstecken konnte. Im hohlen Eisenfuß eines Bettes, dort wurde normalerweise nicht gesucht. Am Arbeitsplatz, in hohlen Bäumen, auch dort hatten sie ihre Sachen versteckt. In Rissen in der Wand der Holzbaracke. Aber das war nicht wichtig. Hier wurde die Stimme lauter. Er, Boris, wußte ohnehin alle Gedichte auswendig. Er war Anatolis Sekretär. Wieder war das Lachen zu hören. Und dann ein Husten. Auf dem Weg zur Arbeit oder nachts, nach der Arbeit, besonders wenn es unmöglich war, warm zu werden, und das war es fast immer, fing Anatoli an, die Zeilen zu deklamieren, und er, Boris, wiederholte sie so lange, bis er sie auswendig wußte. Unter diesen Bedingungen, sagte Boris – und Michael wußte genau, wie sein Gesicht in diesem Moment ausgesehen hatte: wie das Gesicht eines Menschen, der sich an etwas erinnert und diese Erinnerung beiseite schieben will, sie aber für einige Minuten nicht los wird –, unter solchen Bedingungen hatten sie ein Bedürfnis nach so etwas.
    »Bedürfnis nach was?« Michael hörte beschämt seine dumme Frage, auf die nur eine selbstverständliche Antwort möglich war, und er erinnerte sich an das verzeihende Lächeln des Kranken. Max Löwenthal fragte. »What? What did he say?« Boris Singer übersetzte die Frage, und Löwenthal antwortete: Sie hatten ein Bedürfnis nach Dingen, die über das Körperliche hinausgingen, über die Kälte und den Hunger und die täglichen Durchsuchungen, über die Schmerzen. Es gab dort Menschen, die allein waren, aber Anatoli und Boris hatten einander. Anatoli war der Schaffende, und Boris der Erinnernde. In jenen Tagen standen sie noch ganz am Anfang, heute gebe es Dutzende, die Manuskripte auswendig lernten, damit nicht alles an einem Menschen hänge, aber damals ... Und dann hörte er Boris wieder lachen, gemischt mit Weinen, und Michael, der das Band inzwischen fast auswendig konnte, hob die Hand, als wolle er sich wegen seiner Sentimentalität beschimpfen. Er verstand nicht, wie er es schaffte, sich das alles noch einmal anzuhören.
    »Vielleicht schweigen die Musen, wenn die Geschütze lärmen«, sagte Max Löwenthal plötzlich mit seinem amerikanischen Englisch, »aber wenn alles zerstört ist, sogar ohne Geschütze, wenn viele Menschen in einer Baracke oder einem Käfig hausen, wenn einer dem anderen in die Seele dringt, wenn sie in der Dunkelheit zur Arbeit gehen und in der Dunkelheit zurückkommen, wenn sie dauernd unter Aufsicht sind, einen Tag nach dem anderen, ein Jahr nach dem anderen, und wenn man entdeckt, daß der wichtigste Gedanke der an ein Stück Brot oder die Kälte oder die Müdigkeit ist, dann hat man keine andere Rückzugsmöglichkeit als in eine andere Realität. Erst gab es die Gedichte Anatolis, und dann hatte er etwas, für das es sich zu leben lohnte: Er kümmerte sich um Anatoli, und er lernte seine Gedichte auswendig. Vierhundertsiebenunddreißig Gedichte. Und dann starb Anatoli, an Lungenentzündung.« Die Stimme Max Löwenthals wurde lauter. »Und das wird er Ihnen natürlich nicht sagen. Über solche Dinge sprechen sie nicht.«
    Vom Band war das Weinen zu hören, unterbrochen von Wörtern auf russisch, jiddisch und hebräisch. »Eine schöne Seele ... ein großes Herz ...«
    Michael drückte auf den Knopf, die Stimmen hörten auf, er kehrte in die normale Welt zurück.
    Draußen vor dem Fenster war es vollkommen dunkel. In Michaels Gedanken lebten die Bilder und die Stimmen des Tages weiter. Der südliche Akzent der beiden Polizisten, die im Korridor des Krankenhauses warteten. Zu seinem großen Erstaunen verstand er jedes Wort, das sie sagten, weil sie langsam mit ihm sprachen, als sei er nicht nur fremd, sondern auch etwas beschränkt. Sie sagten kein Wort über seinen Akzent.
    Er erinnerte sich an die erstaunliche Szene,

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