Odice
graute schon der Morgen. Entsprechend verschlief Odice. Völlig übernächtigt und total verkatert quälte sie sich gegen neun Uhr aus dem Bett. Um 12 Uhr würde sie kaum in Tours sein. Sie trank eine Tasse Kaffee und knabberte an einem Keks herum. Sie war zu aufgeregt, um etwas herunterzubekommen. Dann nahm sie ihren fertig gepackten Koffer und die große Prada-Reisetasche und bestieg den Aufzug zur Tiefgarage. Sie lud ihr Gepäck in den kleinen Kofferraum ihres Z3 und gab die Adresse in ihr Navi ein.
Der Stadtverkehr von Paris meinte es an diesem Samstagvormittag vergleichsweise gut mit ihr und auch auf der Autobahn gab es keine nennenswerten Verzögerungen. Die Strecke durchs Loire-Tal war immer wieder reizvoll und an diesem kühlen aber trocknen Apriltag schien sogar die Sonne.
Gegen 13 Uhr meldete das Navi Sie haben Ihr Ziel erreicht .
Kapitel 6
Odice hielt vor dem hohen schmiedeeisernen Tor eines herrschaftlichen Anwesens, das auf einer Anhöhe quasi vis-à-vis der Loire lag. Sie stieg aus und schaute sich das High-Tech-Toröffnersystem an. Sie drückte auf den großen Klingelknopf, wobei ihr die Kamera auffiel, die jede ihrer Bewegungen mit dreistem Surren verfolgte. Dann öffnete sich das Tor wie von Geisterhand und Odice stieg in ihren Wagen, um die lange Auffahrt hinaufzufahren. Sie parkte das Auto unter einer großzügigen, weinbewachsenen Laube, unter der bereits ein alter Jaguar und ein schwarzer Porsche standen. Odice bestaunte das schlossartige Haupthaus mit dem beeindruckenden Portal, das von riesigen Buchsbaumkugeln flankiert wurde, als sich die große Eingangstür öffnete und Eric erschien. Er sah wieder phantastisch aus. Diesmal trug er einen lässigen, anthrazitfarbenen Cashmere-Pullover mit V-Ausschnitt, der seine muskulöse, gebräunte Halspartie zur Geltung brachte. Er kam ein paar Schritte auf sie zu und küsste ihr die Hand.
»Schön Sie zu sehen, Odice. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Fahrt.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Eric. Danke, ich hatte eine gute Fahrt. Ihr Anwesen ist übrigens überaus beeindruckend.«
Er nickte lächelnd.
»Um Ihr Gepäck werden wir uns später kümmern. Jetzt kommen Sie erst einmal herein.«
Sie betraten eine Vorhalle mit kunstvoll gelegtem Parkettboden und einer umlaufenden Galerie im nächsten Stockwerk.
Mit einem Mal jedoch änderte sich Erics Ton: »Nun genug der Höflichkeiten. Sie wissen, warum Sie hier sind und in etwa auch, was Sie in diesem Haus erwartet. Dennoch kommen Sie fast eine Stunde zu spät. Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass das Konsequenzen haben wird. Doch dazu später. Zunächst will ich Sie noch mit den weiteren Verhaltensregeln vertraut machen, von denen ich hoffe, dass Sie sie gewissenhafter befolgen werden, als die der pünktlichen Anreise.«
In diesem Moment öffnete sich geräuschvoll eine der übergroßen Türen.
»Ich sehe, unser Gast ist eingetroffen.«
Es war diese Stimme, die Odice’ Herzschlag für einen Moment aussetzen ließ. Es bestand kein Zweifel. Das war die Stimme des schönen, eisäugigen Fremden aus der Galerie. Die kurze Begegnung lag inzwischen fast ein halbes Jahr zurück und dennoch bekam Odice beim Klang dieser Stimme Gänsehaut. Wie in Zeitlupe drehte sie sich um und da stand er; ebenso lässig gegen den Türrahmen gelehnt wie damals in der Rue Vaneau.
Als er sich vom Türrahmen löste und auf sie zukam, jagten die unterschiedlichsten Ausdrücke über sein wunderschönes Gesicht. Für kurze Augenblicke sah sie in seinen herrlichen Eisaugen so drastische Gefühle wie euphorische Freude, wildes Begehren, blankes Entsetzen, namenlose Qual. Zurück blieb Staunen.
Auch er begrüßte sie mit einem vollendeten Handkuss, wobei Odice nicht entging, dass seine schöne Hand mindestens ebenso sehr zitterte wie ihre eigene.
»Willkommen, Mademoiselle Aneau. Mein Name ist Julien«, sagte er und seine Stimme war jetzt nur noch ein Hauch.
Einen Moment lang spielte Odice mit dem Gedanken, auf dem Absatz kehrt zu machen, in ihren Wagen zu steigen und diesen Ort zu verlassen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Doch da sprach Julien schon weiter: »Mein Bruder kümmert sich um die geschäftlichen Angelegenheiten.«
Er verstummte kurz und es klang fast wie eine Entschuldigung, ehe er in verändertem, festem Ton fortfuhr: »Wie dem auch sei, freue ich mich außerordentlich, Sie in unserm Haus willkommen heißen zu dürfen und wünsche Ihnen einen angenehmen, gewinnbringenden und erkenntnisreichen
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