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Odice

Odice

Titel: Odice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anais Goutier
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etwas Gesellschaft«, bot Julien großzügig an, während er die offenbar gebügelte Ausgabe der Le Monde zur Hand nahm, die zusammen mit einer Karaffe mit frisch gepresstem Orangensaft und einer silbernen Isolier-Kaffeekanne im Stil des Art déco auf einem antiken Servierwagen bereitgelegen hatte.
    Als Odice unschlüssig stehenblieb und dann zu der mit weinrotem Samt gepolsterten Récamière unter dem Rundbogenfenster auf der anderen Seite der Bibliothek hinüberschaute, fügte er hinzu: »Auf dem Boden, zu unseren Füßen.« Es klang wie eine Selbstverständlichkeit.
    Auf Odice’ irritierten Blick hin ergänzte er, wobei seine schöne Stimme nun eine Nuance schärfer klang: »Du sollst niederknien, Odice. Und denk an deine Schenkel.«
    Also kniete sich Odice mit leicht gespreizten Beinen hin.
    »Den Oberkörper schön gerade und die Hände hinter den Rücken«, kommandierte Julien streng, ehe er sich der Lektüre des Culture-Teils zuwandte.
    Eric bedachte Odice lediglich mit einem kurzen zufriedenen Blick, während er sich vorbeugte, um die alte Holzkiste zu öffnen, die ebenfalls auf dem Servierwagen gelegen hatte. Er nahm eine Zigarre heraus, drehte sie in den Fingern, nahm dann den Zigarrenschneider zur Hand und schnitt das Kopfende ab. Er drehte sie gewissenhaft über der Flamme seines silbernen Gasfeuerzeugs, ehe er genüsslich zu paffen begann.
    Odice beobachtete all das und sie spürte, wie ihre innere Unruhe wuchs. Wie Eric das Zigarrenritual zelebrierte, während sie auf dem harten Parkettboden kniete, machte sie regelrecht aggressiv. Keiner der Männer sprach ein Wort mit ihr, sie wurde buchstäblich ignoriert.
    Ab und zu las Julien Auszüge aus einem Artikel vor, die er besonders interessant fand oder sie schenkten einander Kaffee und Saft nach.
    Odice’ Knie begannen zu schmerzen und ihre abgeknickten Füße, auf denen ihr Gewicht ruhte, schliefen langsam ein. Sie versuchte ihr Gewicht zu verlagern, aber die hinter dem Rücken verschränkten Arme und das Verbot, die Schenkel zu schließen, ließen ihr wenig Spielraum.
    Eine Weile beschäftigte sie sich damit, Julien anzusehen. Sie versuchte es unauffällig zu tun, um nicht das Gebot des gesenkten Blicks zu verletzen. Odice stellte fest, dass sie sich kaum sattsehen konnte an diesem gemeißelten Profil, an seiner schönen geraden Nase, den sinnlich geschwungenen Lippen mit dem leicht spöttischen Zug, diesen umwerfenden Augen mit ihrem dichten dunklen Wimpernkranz und seinen perfekt gebogenen Augenbrauen, die gerunzelt oder missbilligend gehoben seine spöttische Mimik auf so betörende Weise unterstrichen.
    Gerade sprachen die Brüder über eine Ausstellung in der Fondation Cartier, die eine Kuratorin aus Odice’ Bekanntenkreis eingerichtet hatte. Doch es war Odice verboten, sich ungefragt am Gespräch zu beteiligen und keiner der beiden richtete das Wort an sie. Es war frustrierend und demütigend.
    Sie stellte fest, wie allmählich jede noch so kleine Geste der Brüder sie provozierte, ihre Fähigkeit zum Gehorsam strapazierte und herausforderte.
    Sie beobachtete, wie Julien mit seiner schönen Hand nach dem silbernen Milchkännchen griff, dann unnötig lange in seiner Tasse rührte, um den Art-Déco-Kaffeelöffel schließlich leicht klingend auf der Porzellan-Untertasse abzulegen.
    Er schlürfte den heißen Kaffee und war inzwischen beim Économie-Teil angekommen.
    Langsam kam ihr das Zeitempfinden abhanden. Odice konnte nicht sagen, ob sie hier seit zehn Minuten, einer halben Stunde oder schon über eine Stunde kniete. Das anfänglich unangenehme Gefühl in Knien und Füßen hatte sich nach und nach zu heftigen Schmerzen ausgewachsen und ihre Hände und Arme waren inzwischen gänzlich eingeschlafen. Das Knien entwickelte sich zur quälenden Folter. Und dann spürte sie die Wirkung ihres Café au lait. Hatte der Ballon schon den ganzen Vormittag auf ihre Blase gedrückt, forderte nun zusätzlich der Kaffee seinen Tribut. Unruhig begann sie hin und her zu rutschen, doch auch das schmerzte in den geschundenen Gliedern.
    Es war Julien, der den Blick hob.
    »Ich kann nicht mehr. Ich muss auf die Toilette«, platzte sie heraus und war bereits im Begriff, sich hastig zu erheben. Eine Spur zu übereilt, wie sie feststellen musste, denn die schmerzenden, eingeschlafenen Glieder versagten ihr den Dienst. Doch ehe sie taumelnd über ihre eigenen Füße stürzen konnte, hatte sich Julien schon erhoben, um sie aufzufangen.
    Er bedachte sie mit einem

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