Odins Insel
Kinder erhielten die Erlaubnis, von den Bonbons zu essen, die unter dem Tisch versteckt waren, und der Schmied rauchte seine Pfeife, während Mutter Marie laut die schöne Erzählung aus der Bibel vorlas, wie Gottes Kind vor langer Zeit geboren wurde. Und zum Schluss, ganz zum Schluss, wurden die Geschenke verteilt, und es gab eines für jeden. Und da es sehr unhöflich gewesen wäre, kein Geschenk für Odin zu haben, hatte Mutter Marie den Schmied gebeten, aus der Schmiede ein Hufeisen mitzubringen.
»Das wird Ihnen all das Glück bringen, das Sie brauchen«, sagte sie und überreichte Odin das Hufeisen.
»Ja, es gibt wahrlich kein Unglück, dem ein wenig Glück nicht abhelfen kann«, antwortete Odin und dankte Mutter Marie herzlich, während er das Hufeisen in der Hand hin- und herdrehte. Es war ein etwas ungewöhnliches Hufeisen; es war aus Holz geschnitzt, und in seine Unterseite war ein Rand aus Feuersteinen genagelt. Odin steckte es in die Brusttasche und entschuldigte sich, dass er keine Geschenke für seine Wirtsleute hatte. »Aber sobald Rigmaroles Bein geheilt ist, werde ich euch genau das bringen, was ihr euch am allermeisten wünscht.«
Ida-Anna zwinkerte dem Weihnachtsmann zu, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie seine Verlegenheit verstand und über die Verspätung nicht böse war.
Es war spät geworden, der Abend war vorbei, und alle erhoben sich. Die alte Rikke-Marie, die sehr froh war, endlich jemanden getroffen zu haben, der ebenso alt war wie sie, hatte Odin den ganzen Abend angestarrt, ohne ein Wort zu sagen. Aber jetzt, nach den vielen Bechern Weihnachtsbier und nachdem scheinbar alle gesagt hatten, was sie zu sagen hatten, legte sie Odin eine Hand auf den Arm und fragte ihn in ächzendem Flüsterton, ob er jemals einen rotblonden Mann mit Namen Richard
getroffen habe. Dieser Mann, Richard der Rotblonde, war der Vater der alten Rikke-Marie – aber das war eine Geschichte, die zu lang und zu persönlich war, um an einem Weihnachtsabend erzählt zu werden –, er hatte die Insel vor vielen Jahren, noch bevor sie selbst zur Welt gekommen war, verlassen und war nie wieder zurückgekehrt.
»Nein, nein, leider nicht. Ich glaube nicht«, antwortete Odin langsam und zog bei der beunruhigenden Erkenntnis, dass er sich nicht mehr erinnern konnte, wen er getroffen oder von wem er gehört hatte, bevor er nach Smedieby gekommen war, an seinem Bart. Ein trauriger Schatten fiel über das Gesicht der alten Rikke-Marie, und Odin dachte nicht länger über seine eigene Situation nach, sondern fuhr freundlich fort: »Von jetzt an bis in alle Ewigkeit werde ich mich wahrlich gerne nach ihm erkundigen, wo immer ich hinkomme.«
»Wenn mein Körper nicht so alt und steif wäre, würde ich selbst mitkommen«, sagte die alte Frau und lächelte zahnlos, als wäre sie trotz allem nicht ganz so unzufrieden mit dem Zustand der Dinge und dem ihres eigenen Körpers.
»Wenn Rigmaroles Bein geheilt ist, fahren wir zusammen hinaus und suchen nach Ihrer Familie«, versprach Odin und drückte die Hand der alten Rikke-Marie und wünschte ihr eine gute Nacht.
Am nächsten Morgen rief der Schmied, genau wie er es versprochen hatte, alle Einwohner Smediebys und natürlich alle Einwohner Posthusbys, nicht zu vergessen, zu einem Treffen in der Schmiede zusammen. Die Schmiede war groß, und normalerweise passten mehrere Pferde und Wagen gleichzeitig hinein, doch an diesem Morgen war es sehr eng darinnen. Jeder hatte eine Meinung zu dem Fremden vom Kontinent vorzubringen, und der Krach war ohrenbetäubend. Erst als der Schmied auftauchte, wurde es still.
»Hm, hm.« Der Schmied zierte sich mit leicht gespreizten Beinen. »Hm, hm.« Er nahm die Pfeife aus dem Mund. »Gut, gut. Ja, ich möchte nicht unliebenswürdig sein, aber ich fange lieber mit dem Anfang an.«
Odin war hinter dem Schmied in die Schmiede getreten und stand jetzt direkt neben einem großen Haufen grauer Steine und einem Stapel Rundhölzer. An der Wand hingen ein paar hölzerne Hufeisen mit einem Rand aus Feuersteinen, die genauso aussahen wie das, das Mutter Marie ihm am vorigen Abend geschenkt hatte. Darüber hinaus konnte Odin nichts sehen als den breiten Rücken des Schmieds.
»Ich habe euch heute hier zusammengerufen, ich habe alle Einwohner Smediebys und alle Einwohner Posthusbys, nicht zu vergessen, in meiner Schmiede zusammengerufen, weil etwas getan werden muss, das ehrenvoller ist als alles andere Ehrenvolle, das jemand sich an diesem
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