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Odins Insel

Odins Insel

Titel: Odins Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janne Teller
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zugehört hatten, die Erwachsenen zum Schmied geeilt waren, um zu beratschlagen, wie man sich zu dem unerwarteten Besuch des Fremden vom Kontinent verhalten sollte. Nach langen Erörterungen, um nicht von einer erregten Diskussion zu sprechen, waren sich die Dorfbewohner einig geworden, dass es am nettesten und gastfreundschaftlichsten sei, den Fremden zu behandeln, als wäre er einer der ihren. So hatte der Schmied darauf bestanden, dass sich niemand über das, was der Fremde sagte oder tat, auch nur das kleinste bisschen überrascht zeigen sollte, da der Fremde sich sonst wie ein Fremder vorkommen würde – abgesehen davon, dass so ein Verhalten die Unwissenheit der Dorfbewohner über die Verhältnisse in dieser Welt enthüllen würde.
    Odin aß lange lange Zeit, und da die Dorfbewohner es als sehr unhöflich betrachteten, einen Mann beim Essen zu stören, war der Schmied genötigt, seine Ungeduld zu zügeln. Doch als kein Essen mehr auf dem Tisch stand und nur noch ein paar abgeknabberte Beine auf Odins Teller lagen, trocknete sich der Fremde vom Kontinent die Hände und lehnte sich im Stuhl zurück. Die Unterhaltung konnte beginnen.
    »Hm, hm«, räusperte sich der Schmied und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, während er seine Pfeife stopfte und anzündete. »Hm, hm. Ich möchte in keiner Weise unliebenswürdig sein, Herr Odin, aber es will mir einfach nicht aus dem Kopf, was Sie mit dem Pferd mit dem hm, hm gebrochenen Bein und alles anfangen wollen.« Der Schmied nickte mit dem Kopf zu Mutter Maries Stall hin.
    »Ich befinde mich wahrlich in einer höchst misslichen Lage«, sagte Odin und wickelte sich den langen weißen Bart um die Finger. »Wahrlich in einer höchst misslichen Lage.« Er überdachte die Situation einen Augenblick. »Habe ich richtig verstanden, dass es hier niemanden gibt, der weiß, wie man das gebrochene Bein eines Pferdes behandelt?«
    »Ja«, sagte der Schmied. »Ich möchte nicht unliebenswürdig sein, aber ich befürchte, dass Sie weder in Smedieby noch in Posthusby
oder irgendwo dazwischen jemanden finden, der ein Pferdebein behandeln kann, wenn es erst einmal gebrochen ist.« Es war immer besser, die Wahrheit zu sagen, aber es war Weihnachtsabend und der Schmied hielt es nicht für passend, dem Gast an so einem Abend den Mut zu nehmen. Was wusste man schon von den Gepflogenheiten, an die die Leute vom Kontinent und ihre Pferde sich hielten? Nach einer kurzen Pause klopfte der Schmied Odin tröstend auf die Schulter und fügte hinzu: »Ich möchte nicht unliebenswürdig sein, aber besser reisen Sie zurück auf den Kontinent, um dort nach jemandem zu sehen, der diese Arbeit übernehmen kann.«
    »Auf den Kontinent?«
    »Ja, wo Sie herkommen.«
    »Oh. Oh, ja, der Himmel.« Odin gestikulierte leicht, um zu verbergen, was ihm gerade klar geworden war: In dem Meteorsturm hatte er wahrlich nicht nur die Orientierung, sondern auch jegliche Erinnerung, wo sich sein richtiges Zuhause befand, verloren.
    »Natürlich, aus Himmel.« Der Schmied nickte eifrig. »Aus Himmel, natürlich.« Er lachte laut über seine eigene Torheit. Himmel war bestimmt eine bedeutende Stadt auf dem Kontinent.
    »Und Sie sind in Eile, wie ich verstanden habe?«, fragte der Schmied, vor allem um die Konversation in Gang zu halten, während er versuchte, ein besseres Thema zu finden.
    »Ich war unterwegs, um Unheilsbotschaften zu überbringen.« Erst jetzt merkte Odin, dass er nicht nur vergessen hatte, an wen er sie überbringen sollte, sondern auch, was noch schlimmer war, wovon diese Unheilsbotschaften kündeten, und er zog bekümmert an seinem Bart.
    Oh, ein Postbote, dachte der Schmied, und sofort war ihm der volle Umfang des Unglücks klar, das den Fremden getroffen hatte. Ohne den Postboten von Smedieby sowie den Postboten von Posthusby, nicht zu vergessen, kam man weder im Alltag noch bei Feierlichkeiten oder zu anderen Zeiten des Jahres aus. Der Schmied beeilte sich, Odin zu versichern, dass alles, was möglich war, getan würde, um ihm zu helfen. Ja, schon am nächsten Tag würde der Schmied alle Einwohner Smediebys und natürlich
alle Einwohner Posthusbys, nicht zu vergessen, herbeizitieren und sie bitten, mit Herz und Hirn darüber nachzudenken, wie Herr Odin so schnell wie möglich und ohne weitere Verzögerung zum Kontinent zurückkommen konnte.
    Der restliche Abend verlief wie jeder andere Weihnachtsabend in Mutter Maries Haus. Alle mit Ausnahme der alten Rikke-Marie sangen Weihnachtslieder, die

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