Odins Insel
entschlossen hatten, mit zu der Insel des Propheten zu reisen, sie hatten treffen wollen, war leer. Ihr Bruder hatte sie verraten! Auf dem Esstisch lag eine kurze handschriftliche Mitteilung, in der stand, dass nur Männer integer genug seien, um Allahs Boten, dem Großen Mann, auf die Insel des Propheten, das nördliche Mekka, zu folgen. Der große Prophet Mohammed würde ein solches Betragen verurteilen, dachte Aisha und zweifelte nicht daran, dass Allahs
Bote, der Große Mann, dies ebenfalls tun würde. Aishas Rache sollte süß sein: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Aisha holte die Straßenkarte aus dem geliehenen Auto und studierte die Übersichtskarte über Fredenshvile und Umgebung. Es gab viele mögliche Häfen, viele mögliche Fährten. Nein, sie brauchte weitere Hinweise. Sie ließ den Blick über die Unordnung in der leeren Wohnung wandern. Sie kannte ihren Bruder gut genug, um zu wissen, dass sich irgendwo in der Wohnung…
Während Aisha jeden Quadratzentimeter der leeren Wohnung durchkämmte, durchkämmte der heilige Anders Andersen jede Zelle seines Hirns. Auf die merkwürdigste Weise war der Morgen des Weihnachtsabends plötzlich gekommen, und bei seiner Rückkehr aus den göttlichen meditativen Nebeln in die Realität musste der heilige Anders Andersen der Tatsache ins Auge sehen, dass die Lämmer des Herrn nicht bereit waren.
Aber wie immer legte der heilige Anders Andersen sein Schicksal in die Hände des allmächtigen Vaters und seines Hirten, des Großen Mannes, und zündete sich eine neue Pfeife mit heiligem Gras an, die er unter allen im Park wartenden Lämmern des Herrn herumgehen ließ. Es gab keinen Grund zur Beunruhigung, erklärte der heilige Anders Andersen, während die Pfeife rundging – das Heil ist bei dem, der auf dem Thron sitzt, unserem Gott und dem Lamm . Bevor der Morgen zu Ende war, würde der Hirte des Herrn, der Große Mann, die Lämmer des Herrn direkt durch das Fegefeuer zur Insel der ewigen Weiden führen. In der Zwischenzeit wollte der heilige Anders Andersen ordnungshalber einen Blick auf das werfen, was die übrigen – verführten – Weltuntergangspropheten gerade taten – es konnten ja ein oder zwei Ideen darunter sein, die brauchbar waren.
Und der heilige Anders Andersen irrte nicht. Das Erste, das ihm zu Ohren kam, war Simon Peters II. letzter Appell an die Zweifelnden und Ungläubigen.
»Das Ende der Welt ist gekommen«, schnarrte die Stimme des Lieblingsjüngers aus dem Transistorradio. »Aber Jesus Christus wird heute alle Anhänger des einzigen wahren Glaubens erlösen
und mit sich in das tausendjährige Reich des Friedens auf der Erde führen!« Der Lieblingsjünger musste einen Augenblick innehalten, denn seine Stimme war im Begriff, sich vor lauter Gemütsbewegung und angesichts des bevorstehenden Jüngsten Tages zu überschlagen. »Heute werden sich die Wasser teilen, und ich, Simon Peter der Zweite, früher Fischer an Leib und Seele und jetzt Lieblingsjünger und erster Apostel des Großen Mannes, werde die Wiederauferstandenen Christen zur Insel des Paradieses führen.« In der Güte seines Herzens sah Simon Peter II. es nicht als passend an, an einem Weihnachtsmorgen die Hölle zu beschreiben, die bis zum Abend über die restliche Bevölkerung hereinbrechen würde.
Aber manch eine Seele spürte trotzdem den heißen Atem des Höllenfeuers in ihrem Nacken – und die Qualen des zweiten Todes Tag und Nacht bis in alle Ewigkeit – und wollte lieber heute als morgen vor so einem fürchterlichen Schicksal gerettet werden. So strömten ungeachtet des heftigen Schneefalls alle, die rein im Glauben oder nur fromm im Herzen waren, zum Strand bei Hverv Havn. Obwohl das Paradies groß war, war es doch am besten, sich auf der sicheren Seite zu bewegen und einen Platz weit vorn in der Reihe zu ergattern.
Nach und nach zog sich das Dunkel zurück und wich einem grauen und nebligen Tageslicht. Aber eiskalt war es, der Schnee kam wie Nadeln von allen Seiten gefegt, und es gehörten sowohl ein großer Glaube als auch ein kräftiges auf der Stellestapfen dazu, die Kälte auszuhalten.
Während die Wiederauferstandenen Christen an dem glückseligen Strand, von dem aus sie aufbrechen wollten, im Schnee herumstapften, gingen sieben Wahre Christen vom Zug zu der Fähre, die zwischen Nordnorden und Südnorden verkehrte.
Die sieben mussten sich ihren Weg durch eine verzweifelte Menschenmenge bahnen, um zu der Landungsbrücke zu kommen. Die letzten
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