Odins Insel
nachdem die moslemische Miliz zwei Drittel der Fahrkarten für das Elf-Uhr-Trageflächenboot nach Urö gekauft hatte, nachdem der Vater und die Mutter, die fünf restlichen Onkel, ihre Frauen und Kinder sowie die Witwe des sechsten Onkels und die wenigen nicht mit ihnen verwandten Wiedergeborenen Juden sich in dem Bunker getroffen hatten, in dem Hesekiel, der Rechtschaffene, sich versteckt hielt, nachdem die Rächer die Keulen und Messer poliert hatten, die sie zum Sieg in der endgültigen Schlacht gegen die Tyrannei der Kirche führen sollten, nachdem die sieben sorgfältig ausgewählten Wahren Christen ihre Sachen gepackt und den Wecker gestellt hatten, und nachdem die Jungfrauen Marias ihr Lied für den Frieden
fertig hatten, das am Weihnachtsmorgen gesungen werden sollte, erklang ein wütendes, tiefes Grollen am schwarzen nordischen Abendhimmel, und einen Augenblick später öffneten sich die Wolken, und eine Flut von mächtigen wirbelnden Schneeflocken entlud sich in den tobenden Sturm.
Der Fischer Ambrosius und Odin blieben einen Moment in der Türöffnung stehen und sahen den Fremdling und Gunnar den Kopf im Schneesturm verschwinden.
»Es gibt kein Unglück, dem ein wenig Glück nicht abhelfen kann«, sagte Odin mit einem letzten Blick auf den weißen Wirbel, bevor der Fischer die Tür schloss und verriegelte.
Der Fischer Ambrosius nickte stumm. Es braucht mehr als ein wenig Glück, dass so ein Unwetter aufhört, dachte er. Aber ungeachtet des Wetters konnten sie ihre Abreise nicht länger verschieben als bis zum Mittag des kommenden Tages. Odin hatte Bischof Bentsen nicht nur sein Versprechen gegeben – und man konnte nie wissen, worauf der Bischof oder vielmehr seine Gesandten kamen, wenn Odin nicht Wort hielt –, genau um zwölf Uhr würde auch der Staatsminister die Drude-Estrid-Insel zu südnordischem Territorium erklären, und die Schließung der Meerenge würde beginnen. Zunächst würde die Marine die Einfahrt in die Meerenge schließen, aber es dürfte nicht lange dauern, bis sich die Meerenge in einen großen Marineübungsplatz verwandelt haben würde und die Rikke-Marie gezwungen wäre, aufzugeben. Wann die Nordnordländer zum Angriff übergingen, war eine noch unbeantwortete Frage.
»Ich wünschte, ich könnte mitkommen«, sagte Sigbrit Holland, als der Fischer später zu ihr in die Koje kroch.
»Wir auch«, antwortete er. »Aber der Wunsch ändert nichts.«
»Nein.« Sigbrit Holland lächelte traurig. »Das weiß ich. Und ich weiß, dass es diesmal meine Aufgabe ist.« Sie setzte sich auf und versuchte im Dunkeln den Blick des Fischers einzufangen.
»Mit der Erkenntnis der Freiheit ist Bequemlichkeit keine Alternative mehr«, sagte sie leise.
Der Fischer Ambrosius küsste sie auf die Stirn und nickte stumm.
»In gewisser Weise ist es so, dass du an dem Tag, an dem du herausfindest, dass du eine Wahl hast, keine Wahl mehr hast.«
Herr Brams Bramsentorpf war auf freiem Fuß.
Aisha hatte ihn, noch immer mit verbundenen Augen, auf einer Wiese nicht weit von Fredenshvile freigelassen. Sein Haar reichte ihm bis zu den Schultern, sein Bart bestand aus ungleichen Stoppeln, sein Körper war in einen Shalwar-Kamiz gehüllt, und seine Füße waren nackt. Es ist eine Frage des Glaubens, hatte Aisha geantwortet, als Herr Bramsentorpf sich über seine kalten Füße beschwert hatte. Dann war sie gefahren, und Herr Bramsentorpf nahm die Binde von den Augen und begann stolpernd über das schneebedeckte Feld in Richtung eines schwachen Lichtes in der Ferne zu wandern. Es war der Morgen des Weihnachtsabends.
In einem plötzlichen Anfall von Barmherzigkeit hatte Aisha beschlossen, ihre Geisel nicht umzubringen und – so hatte sie sich immer wieder eingeredet –, es bestand auch wirklich kein Grund dazu, nun, wo es gleichgültig war, ob er anderen von den Plänen des Großen Mannes erzählte. Außerdem hatte Aisha an andere und wichtigere Dinge zu denken.
Aisha fuhr so schnell sie konnte, was inzwischen viel langsamer war, als sie gerne wollte. Der Schnee fiel dicht, und das Dunkel des Wintermorgens war noch nicht durch das Licht des kommenden Tages gebrochen worden. Aisha machte das Autoradio an, schaltete es aber sofort wieder aus. Sie war angespannt und nervös und hegte einen furchtbaren Verdacht. Und es zeigte sich nur allzu bald, dass er berechtigt war. Die Wohnung, in der ihr Bruder, die neununddreißig anderen Milizmitglieder sowie die früheren Moslemischen Modernisten, die sich
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