Odins Insel
Torstensson einen Weltatlas aus dem Regal nahm und Norden aufschlug. Er brauchte einige Zeit, um die Insel anhand der vorgezeichneten Karte Enevolds IV. zu lokalisieren, aber schließlich gelang es ihm.
Doch was war das? Der pflichteifrige Lennart Torstensson sah sprachlos von dem Atlas zu König Enevolds IV. Karte und wieder zurück – die Insel befand sich nicht ausschließlich in südnordischen Gewässern, wie man aus dem Brief ganz den Eindruck gewann. Nein, die Drude-Estrid-Insel lag in der Meerenge genau zwischen dem südnordischen Königinnentum und dem nordnordischen Königtum. Der pflichteifrige Lennart Torstensson nahm ein Lineal und mass alle Abstände genau aus, und mithilfe eines Taschenrechners stellte er einige sehr komplizierte Berechnungen an. Doch es bestand kein Zweifel: die Drude-Estrid-Insel lag genau zwischen den beiden Ländern. Der pflichteifrige Lennart Torstensson las noch einmal den Brief der südnordischen Regierung, aus dem hervorging, dass die südnordische Zugehörigkeit auf der Tatsache gründete, dass König Enevold IV. die Insel 1614 der südnordischen Krone unterstellt und sie nach seiner zweiten Frau Drude Estrid benannt hatte und dass weder damals noch später irgendjemand dagegen Einspruch erhoben hatte.
Der pflichteifrige Lennart Torstensson kaute am Ende seines Bleistifts herum, da ihm dämmerte, dass er in etwas hineingeraten war, das er bisher nur vom Hörensagen kannte: das Loyalitätsdilemma des internationalen Beamten. Als Beamter der Westeuropäischen Bastion musste er von seiner Nationalität absehen und bei seiner Arbeit das Beste für die gesamte Westeuropäische Bastion im Auge haben – worin immer das bestehen mochte. Aber als nordnordischer Staatsbürger konnte man es als außerordentlich illoyal deuten, fast so schwerwiegend wie Landesverrat, wenn er nicht dafür Sorge trug, dass Anspruch auf das erhoben wurde, was rechtlich vielleicht seinem eigenen Land gehörte. Der pflichteifrige Lennart Torstensson überdachte die Situation
lange. Seine unmittelbare Karriere hing davon ab, dass er seine Abteilung zufrieden stellte, die im Moment mit Herrn Hölzern gleichzusetzen war und somit mit der Anweisung, die Insel dem südnordischen Territorium zuzurechnen. Da man jedoch nie wissen kann, was in dieser Welt passiert, konnte seine längerfristige Karriere durchaus noch mehr davon abhängen, wie die nordnordischen Behörden ihm gegenüber eingestellt waren. Es war nicht leicht. Im einen Moment neigte der pflichteifrige Lennart Torstensson zu der einen Möglichkeit, nur um im nächsten die andere für zweckmäßiger zu halten. Schließlich, als seine Armbanduhr bereits halb neun zeigte, gestand er sich ein, dass er sein Dilemma an diesem Abend nicht lösen konnte. Er steckte die Akte zurück in die Mappe, legte die Mappe in die oberste Schublade seines Schreibtisches, zog seine Jacke an, löschte das Licht und verließ das Büro.
Der pflichteifrige Lennart Torstensson grübelte das ganze Wochenende über sein Dilemma nach. Er ging nicht aus, nahm das Telefon nicht ab und aß nicht. Er war so beschäftigt, dass er am Sonntagmorgen sogar vergaß, seine alte Mutter in der nordnordischen Hauptstadt Godeholm anzurufen, wie er es gewöhnlich tat. Es war ein unerträgliches Wochenende, und der pflichteifrige Lennart Torstensson hoffte, nie mehr ein ähnliches erleben zu müssen. Der Samstag verging, ohne dass er eine Lösung fand, der Sonntag ebenso, aber um fünf Uhr am Montagmorgen, nach einer weiteren schlaflosen Nacht, wusste er genau, was er zu tun hatte. »Guten Morgen, guten Morgen«, begrüßte der pflichteifrige Lennart Torstensson fröhlich die schläfrigen Wachleute und Putzfrauen, die er bei Tagesanbruch auf dem Weg zu seinem Büro traf. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und holte summend die Mappe mit der Akte Drude-Estrid-Insel aus der Schublade. »Es ist doch Morgen, du nordnordischer Mann«, sang er.
Nein, es lag wirklich in seiner Verantwortung, in der Verantwortung des pflichteifrigen Lennart Torstensson, dafür zu sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde! Mit festen Schritten ging er zum Kopierer und machte zwei weitere Kopien von dem Brief der südnordischen Regierung und der Karte König Enevolds IV. Dann faltete er vorsichtig jeden Satz zusammen
und – nachdem er jeden mit einem diskreten Zeichen versehen hatte, durch das der Absender bewiesen werden konnte, falls ihm das später opportun erscheinen sollte, das jedoch nicht zu entziffern
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