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Odins Insel

Odins Insel

Titel: Odins Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janne Teller
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war, falls es ihm weniger opportun erscheinen sollte – steckte jeden in einen Briefumschlag. Den einen adressierte er an den nordnordischen Staatsminister, den anderen an den nordnordischen König. Nachdem er seine Staatsbürgerpflicht getan hatte, reinigte der pflichteifrige Lennart Torstensson zufrieden seine Fingernägel mit einer silberglänzenden Feile, schob mit dem stumpfen Ende der Feile sorgfältig die Nagelhaut aller zehn Finger zurück und legte die Feile anschließend wieder in das Lederetui. Dann steckte er die Akte Drude-Estrid-Insel zurück in die Mappe und legte sie in die oberste Schublade. Würde im Laufe von vierzehn Tagen nichts passieren, würde der pflichteifrige Lennart Torstensson – mit gutem Gewissen – die Drude-Estrid-Insel als Teil Südnordens eintragen.
    Hätte der gewissenhafte Lennart Torstensson nur einen Brief an den nordnordischen Staatsminister geschickt, wäre nichts weiter passiert, da der nordnordische Staatsminister bestrebt war, die südnordische Unterstützung dafür zu gewinnen, dass einem nordnordischen Unternehmen die Aufgabe übertragen wurde, eine Brücke zwischen Südnorden und Nordnorden zu bauen. Der kleine Streifen Land zwischen den Klippen der Meerenge schien für Nordnorden nicht von Interesse zu sein und die eine Gefälligkeit …
    Aber der gewissenhafte Lennart Torstensson hatte den Brief auch an den nordnordischen König geschickt. Und der König, der nicht so viel hatte, womit er seine Zeit ausfüllen konnte, maß der Frage bezüglich der neu entdeckten Insel, die zwischen dem südnordischen Königinnentum und dem Nordnordischen Königtum mitten in der Meerenge lag, große Bedeutung zu. Angesichts der vielen Kriege, die die beiden Länder miteinander geführt hatten, der regelmäßig wiederkehrenden Tendenz Südnordens, sich Nordnorden untertan zu machen, und insbesondere auf Grund des hinterhältigen Abschlachtens nordnordischer Adliger 1510 in Godeholm durch den südnordischen König, nährte der nordnordische König keine sehr freundschaftlichen Gefühle gegenüber
der südnordischen Krone und dem südnordischen Volk. Und dass Südnorden eine Insel, die zur Hälfte auf nordnordischem Territorium lag, nach der bürgerlichen und leichtlebigen zweiten Frau König Enevolds IV. benennen wollte, gegen den Nordnorden besonders viele Kriege ausgefochten hatte, machte die Sache nur noch schlimmer. Nein, wenn es nach dem nordnordischen König ging, kam Südnordens Hochmut vor dem Fall – er musste nur ein einziges Argument finden, das auf glaubhafte Weise das südnordische Anrecht auf die kleine Insel anfocht.
    Aber entweder hatte König Hermod Skjalm sein Wort besser gehalten als König Enevold IV., oder der nordnordische König war nicht so geschickt im Finden versteckter Dokumente wie die südnordische Königin. Tatsache war jedenfalls, dass der nordnordische König seine Argumente auf eine vage Notiz im Tagebuch des Regenten A. Vaeddermaane stützen musste, über die die nordnordischen Historiker sich gewundert hatten, seit das Buch 1877 gefunden worden war. Am 5. September 1615 hatte A. Vaeddermaane notiert, dass ein Regiment Soldaten ausgesandt worden war, um eine Insel mitten in der Meerenge südlich von Urö zu verteidigen, die König Hermod Skjalm nach sich benennen wollte.
    Wenige Tage später erhielten der Generalsekretär der Weltgesellschaft sowie der Vorsitzende der Westeuropäischen Bastion einen Brief der nordnordischen Regierung, in dem Nordnorden darum ersuchte, die Insel, die in der Meerenge genau zwischen dem südnordischen Königinnentum und dem nordnordischen Königtum lag, dem nordnordischen Königtum unter dem Namen Hermod-Skjalm-Insel zuzurechnen.
     
    »Der Tag nähert sich.« Odin stand auf dem Kai neben einem Schild, auf dem Zutritt verboten stand, das der Fischer Ambrosius hatte aufstellen lassen. »Der Tag, an dem die Regeln und Formalitäten erfüllt sind, nähert sich und…«
    Mit herzzerreißendem Geheul warf sich eines der Lämmer des Herrn zu Boden vor die Füße des Hirten des Herrn und schlang seine langen dünnen sehnsuchtsvollen Arme um Odins Beine.
    »Der Tag nähert sich! Der Tag nähert sich!«, heulte das Lamm
des Herrn überschwänglich. Erschrocken trat Odin einen Schritt zurück, aber die Arme um seine Beine hielten ihn fest, und nur sein Oberkörper bewegte sich. Glücklicherweise hatte der Lärm den Fischer Ambrosius herbeigerufen, der nun vorsprang und Odin packte, unmittelbar bevor der kleine alte Mann hinfiel.

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