Odo und Lupus 01 - Demetrias Rache
1. Kapitel
Dem teuren Volbertus, Prior des Klosters N., entbietet sein Vetter Lupus Grüße und Heil.
Gewiss wartest Du schon mit Spannung auf neue Nachrichten von mir, doch lange Zeit passierte nicht viel und so schwieg ich lieber.
Die meiste Zeit saß ich in der Kanzlei und kopierte Akten des Hofgerichts. Manchmal setzte ich auch selbst irgendwelche Urkunden auf. Gelegentlich berief mich der Herr Pfalzgraf als Beisitzer zu Verhandlungen, bei denen es aber immer nur um langweilige Dinge wie Vormundschafts- und Erbangelegenheiten ging. Ich fürchtete schon, ich würde hier als Schreiber verkümmern und alle meine Studien des römischen, salischen, ripuarischen, alemannischen, bayrischen und sächsischen Rechts wären umsonst gewesen.
Aber ich beklage mich nicht, heißt es doch in der Heiligen Schrift: „Strebe nicht nach höherem Stande. Denn es gehört sich nicht, dass du nach dem gaffst, was dir nicht befohlen ist.“
Doch plötzlich hat sich alles geändert. Ich habe ein Amt und ich bin unterwegs!
Die Reise ist lang und beschwerlich und das Ziel ist noch nicht erreicht, doch schon nach wenigen Tagen hatte ich ein Erlebnis, von dem ich Dir gleich berichten will.
Es handelt sich um die höchst seltsame Geschichte zweier Morde, an deren Aufklärung ich einigen Anteil habe.
Ich erinnere mich, dass Du gelegentlich die Absicht geäußert hast, ungewöhnliche Geschichten zu sammeln, um sie, mit frommen, belehrenden Kommentaren versehen, der Nachwelt zu überliefern. Vielleicht lohnt es sich, diese in deine Sammlung aufzunehmen.
Du fragst Dich natürlich, woher ich unterwegs die Zeit für die Niederschrift dieser Abhandlung nehme. Durch Umstände, von denen Du im Laufe der Erzählung erfahren wirst, hat sich für uns ein längerer Aufenthalt bei einem Grafen Hrotbert ergeben. Im Augenblick kann ich nichts weiter tun als warten. So werde ich mir das Vergnügen machen, beim Schreiben noch einmal alles nachzuerleben. Dass auch Du Dich beim Lesen gut unterhältst, sei Dir gegönnt, denn Dein gottgefälliges Dasein ist sonst ja recht eintönig. Ich habe auch nichts dagegen, dass Du diese Blätter an einige Brüder Deines Vertrauens weitergibst. Doch Vorsicht! Die Darstellung eines Kriminalfalles ist mit den Lektürevorschriften der Regel des heiligen Benedikt kaum vereinbar und also nicht etwa, wenn Du die scherzhafte Übertreibung erlaubst, dazu geeignet, als Ersatz für den erbaulichen Text bei den Mahlzeiten im Refektorium zu dienen.
Ob es aber nun Sünde ist, dies zu lesen, musst Du selbst beurteilen. Notfalls kannst Du die Verfehlung ja beichten, wobei ich freilich davon überzeugt bin, dass der Bischof, Dein Beichtvater, nachdem er dich absolviert hat, begierig sein wird, sie selbst zu begehen.
Zunächst erfahre, mein lieber Volbertus, wie es zu meiner Reise gekommen ist und um was für ein Amt es sich handelt.
Du wirst staunen.
Sicher weißt Du, dass sich diesmal, im Jahr 788 nach der Geburt unseres Herrn Jesus Christus, die Großen des Frankenreichs zu ihrer jährlichen Generalversammlung in der Ingelheimer Pfalz einfanden. Auch Teile des Heers waren aufgeboten, um, wie es hieß, gegen die Awaren zu ziehen. Über das Hauptereignis, den Prozess gegen den Bayernherzog Tassilo, bist du wohl ebenfalls unterrichtet, denn zweifellos war auch Euer ehrwürdiger Abt anwesend. Ich habe ihn zwar nicht bemerkt, doch was besagt das schon? Sonst hatten wir in der Pfalz viel Platz, aber nun herrschte fürchterliches Gedränge. Auf Schritt und Tritt begegnete man hohen Persönlichkeiten – Heerführern, Kriegshelden, Kirchenfürsten und berühmten Streitern für die Sache unseres Glaubens. Das Auge konnte sich nicht satt sehen und dabei entging ihm wohl dieser und jener.
Für uns in der Kanzlei waren das natürlich Wochen der angestrengtesten Arbeit. Fast jeder, der anreiste, brachte ja irgendeine unerledigte Angelegenheit mit, die am Hofe entschieden werden musste. Bereits in aller Frühe, während er sich noch ankleidete, empfing der König die ersten Besucher zum Vortrag. Kaum hatte er seine Hosen an, sprach er schon Recht. Das Hofgericht tagte ununterbrochen. Berge von Akten stapelten sich auf unseren Tischen, und manchmal hörten wir stundenlang nichts als eine einzige monotone Musik: das Kratzen von fünfzehn, zwanzig Federn auf Pergament.
An diesem Morgen nun war ich gerade an mein Schreibpult getreten, um mich niederzulassen und mein Tagewerk zu beginnen, als der Herr Kanzler, mein Vorgesetzter, eintrat und
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