Ödland - Thriller
verschwunden. In seiner Wohnung in Paramé hatten sich Ökoflüchtlinge einquartiert. MAYA, die große Illusion, hatte Vincents Hirn aufgefressen und ihn wahrscheinlich zu einem gefühllosen Bündel werden lassen, das in irgendeinem Irrenhaus vor sich hin vegetierte. Laurie versuchte gar nicht erst, ihn zu finden. Sie wollte ihn lieber als den Vincent aus glücklichen Zeiten in Erinnerung behalten. Zeiten der Liebe, in denen nichts anderes Bedeutung hatte. Zu spät! Die Erinnerung rührt Laurie zu Tränen. Sie rinnen über ihre Wangen wie die Regentropfen auf der Fensterscheibe.
Na toll! Und jetzt?
Durch den Schleier aus Tränen und Regentropfen erkennt sie etwas Grauweißes, das, vom Sturm vorwärtsgetrieben, über die Festungsmauern trudelt. Etwa ein Vogel? Er benimmt sich reichlich merkwürdig. Laurie wischt sich die Augen. Aufmerksam beobachtet sie das taumelnde Tier. Tatsächlich, es ist eine große Möwe, die es augenscheinlich nicht mehr schafft, vernünftig zu fliegen. Wie ein Spielball im Wind bringt sie es trotz ihrer ausgebreiteten Flügel nicht fertig, den Auftrieb zu nutzen. Von Zeit zu Zeit flattert sie unkoordiniert. Jetzt ist sie über dem Platz. Der Sturm treibt sie genau auf das Haus zu. Sie müsste landen, müsste irgendwo Schutz suchen! Doch dazu scheint sie nicht fähig zu sein. Windböen werfen sie hin und her. Und plötzlich kracht sie mit voller Wucht gegen das Fenster. Die Scheibe zersplittert. Blutend und zitternd bleibt die Möwe inmitten von tausend Scherben auf dem Holzfußboden liegen. Regenschwaden peitschen durch das zerborstene Fenster. Laurie beugt sich zu dem blutenden Tier hinunter. Sie möchte es in den Arm nehmen, ihm helfen, es trösten. Erst im letzten Augenblick schreckt sie zurück und begreift. Die roten, aus den Höhlen tretenden Augen, die erstarrten Flügel, die verkrümmten Füße, der wie zu einem stummen Schrei geöffnete Schnabel und der schwere, abgehackte Atem können nur eins bedeuten: Der Vogel leidet an Botulismus. Seevögel steckten sich häufig an, wenn sie tote Fische aus gekippten Gewässern fressen oder sich auf mit Schweinejauche gedüngten Feldern aufhalten. Es handelt sich um eine mutierte, extrem ansteckende Form der Krankheit, die sich durch einfachen Kontakt auf den Menschen übertragen kann - vor allem, wenn Blut im Spiel ist. Die neue Form des Botulismus führt innerhalb von drei Tagen zum Tod; ein wirksames Gegenmittel gibt es nicht.
Erschrocken schlägt Laurie die Hand vor den Mund, weicht zurück und sieht zu, wie der Vogel langsam stirbt. Das Tier schaut sie an. Es versucht sogar, den Kopf zu drehen, als wolle es um Hilfe betteln. Qualvoll strengt es sich an, wieder auf die Beine zu kommen, doch seine Füße sind ebenso gelähmt wie die Flügel. Der Vogel atmet schwer. Er wird bald sterben.
»Tut mir leid, altes Haus«, murmelt Laurie. »Ich kann dir nicht helfen. Wenn ich dich anfasse, muss ich auch ins Gras beißen.«
Die Möwe zittert. Ihre Bewegungen werden schwächer. In ihren weit aufgerissenen Augen spiegeln sich Panik und Qual. Der durch das zersplitterte Fenster hereinströmende Regen durchnässt sie, setzt den Holzfußboden unter Wasser und mischt sich mit den Glasscherben. Gerade als sich Laurie fragt, wie sie das Tier aus dem Haus bekommen soll, klingelt ihr Telefon.
Sie nimmt es vom Gürtel, befestigt es am Ohr und setzt sich auf ihr Bett.
Der Anrufer ist Markus Schumacher, der Big Boss von SOS-Europa höchstpersönlich.
»Und, Laurie, was treibst du so?«, fragt er in seinem schwerfälligen Französisch, dem man sogar in der fremden Sprache noch den Kohlenpott-Akzent anhört. »Ich habe dir wer weiß wie viele E-Mails geschickt. Warum antwortest du nicht?«
»Ich war beschäftigt«, weicht Laurie aus. »Was willst du?«
»Was ich will?«, explodiert Markus. »In Holland hat es fünfhunderttausend Tote gegeben, Millionen sind obdachlos, das halbe Land steht unter Wasser, und du fragst, was ich will? Du fährst in die Niederlande, Laurie. Dort braucht man im Augenblick jede Hand. Wieso bist du überhaupt noch hier?«
Gute Frage! Die habe ich mir eben auch schon gestellt!
»Nein danke«, erklärt sie. »Da ist mir zu viel Wasser.«
»Was? Du willst nicht?«
»Ganz genau. Ich will nicht. Wasser habe ich hier wirklich selbst mehr als genug. Zweimal täglich dringt das Meer in mein Erdgeschoss ein, und eben ist eine Möwe durch mein Schlafzimmerfenster gekracht; sie krepiert gerade jämmerlich auf dem Fußboden. Ich habe
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