Ödland - Thriller
das stickige, düstere Hinterzimmer.
»Idrissa, ich habe dir Wasser gebracht. Sulfadoxin habe ich leider nicht bekommen.«
Stille.
»Idrissa? Hörst du?«
Stille. Noch nicht einmal sein rasselnder Atem ist zu hören.
Fatou stellt den Becher auf einen Schemel und nähert sich der Matte, auf der Idrissa liegt. Er ist in die einzige Decke des Hauses eingewickelt. Sie weiß längst, was sie erwartet, doch sie will sich selbst überzeugen.
Der wie mit Pergament überzogene Kopf Idrissas liegt ganz gerade. Seine weit geöffneten Augen starren das Wellblechdach an. Fatou zieht die Decke von seinem Körper und legt ihr Ohr an die ausgemergelte Brust mit den hervorstehenden Rippen. Dann richtet sie sich wieder auf und drückt ihm die Augen zu. Sie empfindet keinen Schmerz. Das Schicksal hat eben einmal mehr zugeschlagen.
Sie trinkt das lauwarme Wasser und denkt an die harte Arbeit, die ihr bevorsteht. Sie muss den Leichnam in den Hof zerren, wo sich die Geier seiner annehmen werden. Doch ihr bleibt ein Trost: Jetzt hat sie mehr Wasser für ihren eigenen Bedarf zur Verfügung.
ERSTES KAPITEL
Todestriebe
276 000 Tote und Vermisste, 5,3 Millionen Obdachlose, ein Schaden, der sich in einer Größenordnung zwischen 700 und 800 Milliarden Euro bewegt - so sieht die vorläufige Bilanz der Katastrophe aus, die vorgestern die Niederlande heimgesucht hat. Ein Viertel der Landfläche steht meterhoch unter Wasser, im Rest des Landes gibt es fast nirgendwo mehr Strom. Auch die Nachrichtenverbindungen sind weitestgehend unterbrochen. Experten zufolge sind dies Hinweise darauf, dass die Zerstörung des Abschlussdamms ( siehe Skizze ) auf etwa einen Kilometer Länge Folge eines Sabotageaktes sein könnte und nicht zwangsläufig auf den Orkan zurückzuführen ist, der zeitgleich über die Region hinwegfegte. Zwar wurde der Ausdruck Anschlag bisher nicht ausdrücklich erwähnt, jedoch auch nicht ausgeschlossen. Natürlich werden bei Anschlägen sofort Erinnerungen an die Vorgehensweise radikal-islamistischer Gruppierungen wie den Islamischen Dschihad wach; in diesem Fall jedoch wird zusätzlich in eine ganz andere Richtung ermittelt. Wie man weiß, existiert in Amerika eine der europäischen Politik extrem feindlich gesonnene Fundamentalistengruppe: die Göttliche Legion .
Exotarium
»Nicht Franzose, nicht Bretone: Ich bin aus Saint-Malo.«
Wahlspruch von Saint-Malo seit der Ersten Republik 1590
Laurie steht am Fenster ihres Schlafzimmers und verfolgt mit starrem Blick, wie schlammiges Wasser zwischen den losen Pflastersteinen der gegenüberliegenden Place Vauban hindurchsickert. Eben erst hat es aufgehört zu regnen, aber es sind nicht die häufigen Schauer, die den alten Platz unter Wasser setzen. Es ist das Meer, das in die Stadt eindringt.
Seit einiger Zeit ist es bei jeder Springflut das Gleiche: grünliches, stinkendes Meerwasser überschwemmt den Platz, sickert in Lauries Haus ein, setzt für etwa eine Stunde das Erdgeschoss unter Wasser und zieht sich dann wieder zurück. Was bleibt, sind gräuliche Ablagerungen und ein Geruch nach Algen und Schlamm. Die Mauern des Hauses sind mit Wasser vollgesogen; alles ist feucht und schimmelt. Das Erdgeschoss ist so gut wie unbewohnbar geworden. Es sind nicht die Festungsmauern, die an diesem Dilemma schuld sind. Seit Jahrhunderten widerstehen sie den Stürmen aus Nordost, werden regelmäßig mit Silikon imprägniert und lassen allenfalls Gischt durch. Der Baumeister Vauban hatte an alles gedacht - an heftige Stürme ebenso wie feindlich gesonnene Engländer -, doch wie hätte er wissen sollen, dass der Meeresspiegel eines Tages ansteigen würde? Inzwischen dringt regelmäßig Meerwasser in die tiefer gelegenen Teile der Altstadt ein, lässt die Mauern verrotten und macht den Bewohnern das Leben schwer. Man hat alles Mögliche probiert und probiert weiter - Pumpen, Drainagen, Trockenlegung, Erhöhung und Abdichtung -, doch bisher war jeder Versuch zum Scheitern verurteilt. Das Wasser kommt immer wieder zurück. Zwar ist Saint-Malo nicht so stark betroffen wie die Stadt Venedig, die langsam, aber sicher in ihrer Lagune ertrinkt, doch der Vergleich ist nicht von der Hand zu weisen. Viele Bewohner haben die Stadt bereits verlassen.
Laurie zittert, niest und putzt sich mühsam die schon wieder verstopfte Nase. Die blöde Erkältung wird sich den ganzen Winter hindurch festsetzen und den Weg für Bronchitis, Angina und andere Infektionen bereiten. Im Sommer sind es Sonnenbrände und
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