Ödland - Thriller
gehen, doch er ist an der Schulter verletzt und viel zu erschöpft, um sich zu bewegen.
Auch die Feuerwehrleute sind erschöpft. Ihr Einsatz dauert inzwischen schon den vierten Tag an. Bis auf die Haut durchnässt, waten sie tagtäglich im Schlamm, klettern im Schutt herum, laden Dutzende von Leichen ins Boot, befreien Überlebende mit Pickel und Schaufel, durchsuchen bröckelnde Ruinen, versuchen Hysteriker zu beruhigen und Todgeweihte am Leben zu erhalten, schlafen und essen irgendwann zwischendurch und halten sich gegenseitig irgendwie aufrecht - um Himmels willen nicht zusammenklappen!
Außer seinem ehemaligen Nachbarn Herman van der Hoek kennt Rudy niemanden an Bord des Zodiac. Herman gehört der freiwilligen Feuerwehr von Swifterbant an und hat es Rudy ermöglicht, auf dem Boot mitzufahren. Eigentlich hätte Rudy helfen sollen, doch bisher ist er nicht besonders nützlich gewesen. Auch das Kätzchen hat Herman gerettet. Beinahe wäre er sogar ins Wasser gefallen, als er mit seinem langen Haken nach dem Beistelltisch angelte, auf dem das kleine Tier jämmerlich miauend und mit schlammverklebtem Fell vorbeitrieb.
»Lass das doch!«, schimpfte der Gruppenführer, ein Berufsfeuerwehrmann aus Lelystad. »Das Vieh ist bestimmt krank und wird sowieso sterben.«
Aber Herman hörte nicht auf ihn. Er rettete die Katze und hat sie Rudy anvertraut. Dabei huschte sogar der Anflug eines Lächelns über sein gutmütiges, rundes Gesicht. Ein prima Kerl, dieser Herman - immer das Herz auf dem rechten Fleck, eine joviale Stimmungskanone, die mit flapsigen Bemerkungen ebenso schnell war wie mit dem Öffnen von Bierdosen. Wie Rudy hat auch er bei der Katastrophe seine gesamte Familie verloren, als er gerade im Einsatz und damit beschäftigt war, fremden Menschen das Leben zu retten. Jetzt lacht Herman nicht mehr, kein Witz kommt über seine Lippen, und er öffnet auch keine Bierdose mehr. Dafür schuftet er wie ein Tier. Er zerrt Überlebende aus den Ruinen, hievt sie an Bord, wärmt sie auf, findet manchmal sogar ein tröstendes Wort und steckt Kindern aufgefischtes Spielzeug zu.
Rudy hat ein schlechtes Gewissen, dass er nicht so nützlich und großmütig sein kann wie Herman, doch seit er durch die Ruinen von Swifterbant fährt, fühlt er sich wie gelähmt. Dabei wusste er durchaus, was ihn erwarten würde. Im Verlauf der drei Tage, während der er mit Händen und Füßen darum kämpfte, zumindest zu versuchen, sein Haus zu erreichen, hat er schreckliche Bilder gesehen, herzzerreißende Berichte von Überlebenden gehört, erschöpfte Retter getroffen, die ihm das schiere Entsetzen beschrieben oder nur noch ein hoffnungsloses Kopfschütteln für ihn übrig gehabt haben. Über das Schicksal von Aneke und Kristin gibt es keinen Zweifel. Sie standen auf der ständig aktualisierten Liste, die statt der Abfahrtszeiten der Züge über die Bildschirme des Bahnhofs von Lelystad flimmerte. Der Bahnhof ist dank seiner erhöhten Lage zur Schaltstelle für Informationen und zum Hauptquartier der Rettungskräfte umfunktioniert worden. Die endlos lange Liste von Toten und Vermissten wird tagtäglich von Tausenden ängstlicher Augen verfolgt. Auch Rudy stand in der Menge, aus der immer wieder Schreie und Weinen aufbrandeten. Aneke Schneider, verstorben. Kristin Klaas, verstorben. Zweimal hat er die komplette Liste durchgelesen, hat die grünen, flackernden Buchstaben an sich vorbeilaufen lassen, immer in der verrückten Hoffnung, dass sich ein Fehler eingeschlichen haben könnte, der beim nächsten Durchlauf korrigiert würde. Dringende Nachricht für Herrn Ruud Klaas: Aneke und Kristin warten am Empfang. Wir bitten den Irrtum zu entschuldigen. Doch das Wunder geschah nicht. Aneke Schneider, verstorben. Kristin Klaas, verstorben. Unerbittlich. Und niemand konnte ihm erklären, wie und warum. Oder wo er sie finden könnte. Niemand. Überall liefen völlig überlastete Menschen orientierungslos herum, telefonierten, schimpften, seufzten. Ladentische und Schalter wurden von Überlebenden belagert und waren unerreichbar. Ab und zu tauchten seltsame Gerüchte auf, die irgendwer irgendwo aufgeschnappt hatte und die sich wie ein Lauffeuer verbreiteten: Die Welle sei fast hundert Meter hoch gewesen; das Wasser scheine vergiftet zu sein; jemandes Onkel sei an Botulismus gestorben; einige Opfer hätten Stromschläge erlitten, weil Hochspannungsdrähte gerissen und ins Wasser gefallen seien; kein einziges Windrad habe die Flut überstanden; einige
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