Ödland - Thriller
der Pumpen schienen wieder zu funktionieren; der Deichbruch sei ein Attentat und Werk des islamischen Dschihad gewesen; nein, Schuld an der Katastrophe sei mit Sicherheit die Göttliche Legion, diese fundamentalistischen Schweine; ein neuerlicher Orkan kündige sich an ... Aneke Schneider, verstorben. Kristin Klaas, verstorben. Wie sollte er sie finden? Wo sollte er suchen?
Ich muss hin, sagte Rudy sich immer wieder. Ich muss es mit eigenen Augen sehen. Es war ihm unmöglich, angesichts grün flimmernder Buchstaben auf einem abgenutzten Bildschirm wirklich zu trauern. Er konnte einfach nicht draußen bleiben und als Zuschauer an dem von Medien gezähmten Drama teilnehmen. Seine Frau und seine Tochter waren tot, verdammt noch mal! Sie waren gestorben, während er in Brüssel um den Mindestpreis von Tulpenzwiebeln gefeilscht hatte. Sie hatten die gigantische Welle mit voller Wucht abbekommen, sie hatten dem Tod ins Gesicht schauen müssen, während bei ihm gerade mal das Licht kurz geflackert hatte.
Aber Rudy will sehen, will das Ausmaß der Katastrophe begreifen, will Anekes und Kristins Angst und ihr Entsetzen teilen. Und so hat er sich in den Kopf gesetzt, auf irgendeine Weise nach Swifterbant zu kommen. Er weiß, dass das Gebiet völlig abgeriegelt und der Zutritt weder für Schaulustige noch für Familienmitglieder der Opfer gestattet ist. Nur Rettungskräfte dürfen hinein. Er will sein zerstörtes Haus, die zersplitterten Gewächshäuser und sein vernichtetes Leben mit eigenen Augen sehen. Solange er es nicht gesehen hat, kann er nicht daran glauben; alles würde zu dem schrecklichen Albtraum, der schon jetzt seine Nächte heimsucht - zumindest in den wenigen Stunden, in denen er manchmal etwas Schlaf findet.
Zufällig lief er im Hauptquartier im Bahnhof schließlich Herman über den Weg. Endlich ein bekanntes Gesicht! Rudy fragte ihn nicht nach seiner Familie; die furchtbare Antwort stand seinem Nachbarn klar und deutlich ins Gesicht geschrieben. Aber er sah ihn sofort als seinen Retter an, als ein winziges Licht im Dunkel.
»Herman, du bist doch bei der Feuerwehr. Könntest du mich vielleicht mitnehmen?«
»Kein Problem«, antwortete der gute Herman. »Ich rufe dich an, sobald wir losfahren.«
Und er hielt Wort. Morgens um sechs Uhr rief er an, weckte sämtliche Nachbarn, die zusammengepfercht im Wartesaal des Bahnhofs schliefen, und sagte Rudy, dass es eine Stunde später vom Hafen von Lelystad aus losginge. »Du solltest unbedingt pünktlich sein. Wir werden nämlich auf keinen Fall warten.« Rudy war pünktlich - schließlich hatte er vorgesorgt.
Jetzt ist es drei Uhr nachmittags, und ihre Ausbeute besteht aus einem Toten und fünf Überlebenden, einem völlig unerwarteten Ergebnis. Rudy hat feststellen müssen, dass die Katastrophe viel schlimmer gewütet hat, als es auf den von den Medien gezähmten Bildschirmen aussah: überflutete Felder, soweit das Auge reicht, eine traurige, wässrige, mit Kadavern, Holzstämmen und Trümmern übersäte Ebene, massakrierte Wälder, ineinander verhakte Baumleichen, niedergemähte Windräder, Häuser, die dem Wasserdruck nicht standgehalten haben und eingestürzt sind, und Rettungsmannschaften, die, mit armseligem Werkzeug ausgestattet, zwischen den Ruinen herumwaten. Er hat die Ausdünstungen von Zersetzung, Verwesung und freigewordenen Chemikalien gerochen und den faden Gestank des verdorbenen, bösartigen, zerstörerischen Wassers. Er hat das große, graue, vom Tod über alle Dinge gebreitete Leichentuch gespürt. Er hat die Seelen der Opfer im Wind seufzen hören, übertönt von den Hilferufen der Überlebenden. Er hat kaum geholfen, doch die Feuerwehrleute haben Verständnis gezeigt und seine stumme Unbeweglichkeit respektiert. Hauptsache, sie wurden nicht bei der Arbeit behindert.
Und jetzt erreichen sie sein Haus. Rudy wechselt einen Blick mit Herman, der die Lippen zusammenpresst und die Augen abwendet. Rudy betrachtet die Ruinen. Er erkennt nichts wieder, obwohl er genau weiß, dass es dort gewesen sein muss. Er sieht Mauerstücke, ein eingestürztes Dach, entwurzelte Bäume - wie überall sonst auch. Dinge des täglichen Lebens dümpeln auf dem abgestandenen Wasser. Rudy greift nach einem Plastikteil, das zufällig in Reichweite kommt. Es ist eine Babybox-Spielkonsole. Ob sie seiner Tochter gehört hat? Sicher ist er sich nicht. Er findet nichts, was ihn mit seiner Vergangenheit verbindet, nichts, was ihn an sein früheres Leben fesselt. Die Welle hat
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