Ödland - Thriller
Dialekt hört.
»Ja«, seufzt sie. »Geben Sie mir bitte Ihren Antrag.«
»Sie erinnern mich an Aneke. Aneke, meine Frau. Sie ist ... sie war auch Deutsche.«
Die junge Frau seufzt erneut. Ihr Gesicht nimmt einen gereizten Ausdruck an, der für Grübchen auf ihren Wangen sorgt.
»Seit heute Morgen sind Sie ungefähr der Fünfhundertste, den ich an seine verstorbene Frau, Schwester, Tochter oder Cousine erinnere. Ich bin weder Ihre Amme noch Ihr Psychotherapeut, okay? Und jetzt geben Sie mir endlich Ihren Antrag oder verschwinden Sie. Hinter Ihnen warten noch ungefähr zehntausend andere.«
»Richtig, ich stehe mir schon seit Stunden die Beine in den Bauch.«
»Ich bin es so satt!«
»Geht es da vorn vielleicht endlich weiter?«
»Was ist denn nun mit seinem Scheißantrag?«
Rudy zieht einige schlecht bedruckte Blätter aus der Brusttasche, wobei Moses' Köpfchen wieder auftaucht. Das Papier ist grau, feucht und voller Katzenhaare. Die junge Frau von Refugees.org überfliegt den Antrag und nickt verdrossen.
»Da fehlt aber eine ganze Menge.«
»Ich habe nicht mehr bekommen können. Alle Kanäle sind entweder außer Betrieb oder überlastet. Schließlich hat sich hier eine Katastrophe abgespielt!«
»Gut. Herr ...« Sie wirft einen raschen Blick auf die Papiere in ihrer Hand. »... Ruud Klaas, haben Sie vielleicht die Möglichkeit, irgendwo unterzukommen - bei Familienangehörigen, Freunden oder Bekannten?«
Rudy schüttelt langsam den Kopf. In Wahrheit hat er auch niemanden gefragt, weil er beim besten Willen nicht wüsste, wem er sich auf unbestimmte Dauer zumuten könnte, abgesehen vielleicht von seinen Eltern in Haarlem - doch wahrscheinlich wäre auch das schmutzigste Lager dem Aufenthalt bei seinen Eltern vorzuziehen. Wie viele Europäer seiner Generation ist auch Rudy ein individualistischer Einzelgänger. Seine Freundschaften sind eher oberflächlich und von kurzer Dauer; immer hat er den geschützten Kokon seines vernetzten Hauses der aggressiven Außenwelt vorgezogen. Wenn die Natur ein feindliches Gesicht aufsetzt und das Klima zum Killer wird, wenn in Amsterdam jede Nacht Desperados, Full Moon Killers und andere Fans kollektiver Mordanschläge ihr Unwesen treiben, wenn es einem Abenteuerausflug mit ungewissem Ausgang gleichkommt, abends einmal auszugehen, wird das eigene Zuhause schnell zum Zufluchtsort und letzten sicheren Kuschelnest. Was nun seine Eltern in Haarlem angeht ... Rudy muss nur daran denken, dass sein Vater ein bedeutendes Mitglied der Nederlandse EuroFront ist und seine Mutter sich mit ziemlicher Sicherheit von der Göttlichen Legion beeinflussen lässt, um sich, ohne lange zu überlegen, für ein Flüchtlingslager zu entscheiden, und zwar ganz gleich, wie weit weg und wie unsicher es sein mag. Außerdem haben seine Eltern ihn ohnehin verstoßen.
Die ehrenamtliche Mitarbeiterin von Refugee.org tippt eifrig auf ihrem Mobiltelefon herum. Dabei murmelt sie Worte auf Deutsch, die Rudy allerdings problemlos versteht: »Ausgelastet ... voll ... unter Quarantäne ... ausgelastet...« Schließlich sieht sie ihn an.
»Buchholz.«
»Wie bitte?«, fragt Rudy nach.
»Buchholz. Das liegt in Deutschland. In der Nähe von Hamburg.«
»Gibt es nichts mehr in der Nähe?«
»Nein. Ansonsten bliebe nur noch Wroclaw in Polen.«
»Und ... wie ist es da so?«
»Na, Tennis, Golf, Schwimmbad, Sauna und jede Menge Feinschmeckerrestaurants«, antwortet die junge Frau sarkastisch. »Was erwarten Sie denn?«
Rudy zuckt die Schultern. Während der Tage des Umherirrens, der Bestürzung und der Hoffnungslosigkeit hat er allerlei über die Flüchtlingslager gehört - Gutes und Schlechtes. Darunter waren auch sehr unterschiedliche Meinungen über die in Belgien und den Niederlanden neu entstandenen Camps. Von Buchholz allerdings hat er noch nie gehört. Wahrscheinlich ist es ganz neu.
»Einverstanden. Also Buchholz.«
Die Frau nickt und tippt wieder auf ihrem Handy herum. Daraufhin spuckt ein angeschlossenes Gerät eine Mikrokarte aus, die sie Rudy aushändigt. Auf der Karte, die noch nach warmem Plastik riecht, steht sein Name.
»Das ist Ihr vorläufiger Code als Antragsteller. Sie können damit nach Buchholz fahren und dort maximal drei Monate bleiben. Aber Sie dürfen sie keinesfalls verlieren.«
»Und was ist mit meiner Akte?«
Sie greift nach einem bedruckten Blatt, kreuzt ein paar Stellen an und legt es auf den Schaltertisch.
»Das sind die fehlenden Unterlagen. Den Rest behalte ich hier.
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