Ödland - Thriller
Eine besondere Unwetterwarnung galt für Douglas County, wo man die Bevölkerung aufforderte, sich keinesfalls mehr im Freien aufzuhalten, sondern die eigenen oder die vom Staat zur Verfügung gestellten Schutzkeller aufzusuchen. Rudy verließ das Hotel trotzdem, denn zu diesem Zeitpunkt war es nicht mehr möglich, die Durchführung des Plans zu vertagen.
Die Luft ist schwül, feucht und stickig. Rudy kommt es so vor, als hätte er flüssiges Blei in den Adern oder schwimme in einem See aus Pech. Der Himmel hat seine Farbe von Blassblau zu einem flockigen Weiß verändert, in dem sich verwaschene Wölbungen abzeichnen. Er sieht aus wie eine riesige, umgestülpte Schüssel mit gestockter Milch. In den Straßen herrscht so gut wie kein Verkehr mehr. Die wenigen Fußgänger hasten mit gesenkten Köpfen nach Hause; letzte Autos huschen vorbei, als fürchteten sie, die wattige Stille zu stören, die über der Stadt liegt. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Schon hört man in der Ferne ein dumpfes Grollen. Summend fliegt eine Drohne über Rudys Kopf hinweg. Mit klopfendem Herzen zieht er den Kopf ein. Hat man ihn etwa entdeckt? Nein, es ist eine von der Stadt eingesetzte Maschine, die ihre Nachricht auf den fotosensiblen Scheiben hinterlässt:
ACHTUNG, DRINGENDE TORNADOWARNUNG
EINSTUFUNG: F4 ODER F5
SUCHEN SIE UMGEHEND IHRE SCHUTZKELLER AUF!
Was tun? Sich in Sicherheit bringen auf das Risiko hin, dass alles schiefgeht? Es trotzdem versuchen, auch wenn sein Leben am seidenen Faden hängt? Im Übrigen könnte dieser Tornado sich sogar als nützlich erweisen, weil er die Aufmerksamkeit von Rudy ablenkt ... Er beschließt weiterzugehen und sich vor Ort zu entscheiden; außerdem besitzen die Fullers mit Sicherheit einen eigenen Schutzkeller.
Er nähert sich dem Nobelviertel. Im Gegensatz zum Vortag spürt er weder den Druck im Schädel noch die Schwere in den Gliedmaßen und auch nicht die Angst, die ihn schließlich zum Umkehren zwang. Entweder hat der Klon ihn nicht bemerkt, oder es fehlt ihm an Kraft, ihn zurückzudrängen. Abou scheint am Werk zu sein. Rudy lächelt voll Vertrauen und legt einen Schritt zu.
Achtung!
Die Warnung erscheint vor seinem inneren Auge, als er gerade in die 2076th East Road einbiegen will, sich also unmittelbar vor dem Ziel befindet. Im gleichen Augenblick erkennt er eine Gestalt am Ende der Straße und sieht einen Blitz. Ohne nachzudenken, lässt er sich zu Boden fallen. Eine Detonation zerreißt die Stille. Kreischend stiebt eine Schar Vögel auf. Die Kugel pfeift über Rudy hinweg, der sich hinter einen geparkten Wagen rollen lässt und die Beretta aus der Tasche seines Blousons angelt. Er hört hastige Schritte auf dem Asphalt, dann ein Rascheln im Gras. Sie sind zu mehreren. Die Schritte nähern sich. Man versucht, ihn einzukreisen. Eng an das Auto gekauert, sucht Rudy die nähere Umgebung nach einer besseren Deckung ab. Plötzlich erkennt er aus dem Augenwinkel eine lebhafte Bewegung. Er wirbelt herum und schießt. Ein Schrei. Der Mann sinkt auf dem Bürgersteig in sich zusammen. Einer weniger. Eine Gewehrsalve knattert. Die Autoscheiben zersplittern. Eine Scherbe ritzt Rudys Wange. Bis Rudy es wagt, mit einem Sprung in die Büsche am Straßenrand zu hechten, ist die Autotür mit Einschüssen übersät. Die Schüsse lassen nicht nach. Erde und Pflanzenteile spritzen empor. Rudy schießt aufs Geratewohl, trifft aber niemanden.
Mit einem Mal wird es still. Die Verfolger scheinen sich neu aufzustellen. Wer mag es sein? Von Tony Junior oder seiner Mutter beauftragte Milizionäre der Eudora Civic Corp.? Doch die hätten ihn als sozusagen offizielle Polizei der Enklave vermutlich festgenommen und keinen Hinterhalt gestellt. Banditen? Auftragsmörder? Eine private Wachmannschaft? Rudy hat keine Zeit, seine Hypothesen zu vertiefen, denn die Schießerei geht weiter. Die Männer ballern wie wild auf das Gebüsch, hinter dem er sich verkrochen hat. Glücklicherweise liegt er in einer flachen, durch das Grünzeug verborgenen Kuhle; die Kugeln pfeifen vorbei, ohne seinen in die trockene Erde geschmiegten Köper auch nur zu streifen. Seine Gegner scheinen keinen Wärmesensor in ihrer Zielvorrichtung zu haben.
Der Kugelhagel hält an. Vorsichtig hebt Rudy den Kopf und versucht, durch die Blätter hindurch etwas zu erkennen. Ein Klackern zu seiner Rechten. Jemand hat ein neues Magazin eingelegt. Rudy verändert seine Lage geringfügig und entdeckt einen Kerl, der halb hinter einem Baum hervorschaut. Rudy
Weitere Kostenlose Bücher