Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Abane hat den Übergriff von Chastels Männern überlebt, er war ein Indexpatient. Ehe ich sein Gehirn analysiert habe, habe ich an ihm Versuche tiefer Hirnstimulation vorgenommen. Wir haben vor allem das Schmerzzentrum aktiviert, um Kurven aufzuzeichnen und für die Statistiken auszuwerten. Wir mussten ihn ohnehin töten, also konnten wir ihn vorher auch so gut wie möglich nutzen.«
Sharko verzog angewidert das Gesicht. Diese Experimente erklärten, warum man Abanes Nägel in seinem Fleisch gefunden hatte. Er hatte ein wahres Martyrium durchlebt. Quinat setzte ihre grauenerregende Erklärung fort:
» Als er schließlich tot war, hat Manœuvre sich darum gekümmert, ihn zu anonymisieren. Der Legionär ist nicht gerade feinfühlig und raffiniert vorgegangen, hat Zange und Beil benutzt. Dann hat er die Leichen in Gravenchon vergraben. Mitten im Nirgendwo, wo nie jemand hingehen oder eine Verbindung zur Fremdenlegion herstellen würde.«
» Und was hat Chastel gemacht?«
Sie zuckte die Achseln.
» Allem Anschein zum Trotz kontrollierte er nicht viel. Neben seiner offiziellen Funktion sollte er nur ein eventuelles Auftreten des Syndroms E in seinem Korps überwachen. Wir beide haben uns nie wirklich gut verstanden. Wie vielen anderen gefielen ihm meine Methoden nicht, vor allem mein Vorgehen in Ägypten. Was den Legionär Manœuvre angeht, so war es seine Aufgabe, den Film zu beschaffen. Er stand in meinem Dienst. Als es dann konkret wurde bei Szpilman und dem alten Restaurator, habe ich ihn begleitet. Ich wollte die ›Zeugen‹ persönlich verschwinden lassen.«
Lucie spürte, dass Sharko kurz davor war zu explodieren.
» Warum die Augen?«, fragte sie mit harter Stimme.
Coline Quinat erhob sich.
» Kommen Sie mit…«
Sharko bahnte sich einen Weg zwischen den Polizisten hindurch. Quinat führte sie in das große, saubere Untergeschoss. Sie deutete mit dem Kopf auf einen alten grauen Teppich. Lucie verstand, schob ihn beiseite, legte eine Falltür frei und öffnete sie. Sie rümpfte die Nase, dort unten erwartete sie der Horror.
In einer winzigen Kammer standen Dutzende von Gläsern mit Augäpfeln. Blaue, braune, grüne Iriden schwammen im Formaldehyd. Angewidert reichte Lucie dem Hauptkommissar eines der Gefäße. Coline Quinat betrachtete es aufmerksam. Etwas Unheilvolles lag in ihrem Blick.
» Die Augen, das Licht, das Bild, das Auge, dann das Gehirn, das Syndrom E… all das hängt zusammen, begreifen Sie das jetzt? Jedes Element existiert nicht ohne die anderen. Diese Augen gehören zum großen Teil jenen, durch die sich das Syndrom E übertragen hat. Sie haben mich immer ebenso fasziniert wie Jacques Lacombe und meinen Vater. Es handelt sich um perfekte und wertvolle Organe. Die, die Sie in der Hand halten, sind die von Mohamed Abane, den die dummen Legionäre für seinen Bruder Akim gehalten haben. Es sind die Augen eines Indexpatienten, Kommissarin. Augen, die auf eine unerklärliche Art spontan das Syndrom E aufgenommen und an das Gehirn weitergeleitet haben, sodass sich seine Struktur verändert hat. Verdienen sie es nicht, sorgsam aufbewahrt zu werden?«
In ihrem Blick lag eine Art Wahnsinn, den Lucie nicht zu definieren vermochte. Ein Wahnsinn, entstanden aus der Verbissenheit eines Menschen, der zu allem bereit ist und bis zum Letzten geht. Lucie wandte sich an Sharko, der im Dämmerlicht stand. Dann fasste sie Coline Quinat beim Arm und führte sie zu den Männern, die oben warteten. Ehe sie sie den Ordnungskräften übergab, fragte sie:
» Sie werden den Rest Ihres Lebens im Gefängnis verbringen. Hat sich das wirklich gelohnt?«
» O ja, es hat sich gelohnt. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr.«
Dann lächelte sie ihr zu. Lucie begriff, dass keine Gitter der Welt je dieses Lächeln würden einsperren können.
» Die Bilder, junge Frau… überall gibt es immer gewalttätigere Bilder. Denken Sie an Ihre eigenen Kinder, die sich durch Computer und Videospiele verblöden. Denken Sie an diese formbaren Gehirne, die von frühester Jugend an beeinflusst werden. Das gab es vor zwanzig Jahren noch nicht. Wenn Sie Gelegenheit dazu haben, lesen Sie die Autopsieberichte von Eric Harris, Dylan Klebold und Joseph Whitman, jenen Jugendlichen, die mit einer Waffe in der Hand in ihre Schule gekommen sind und auf alles gezielt haben, was sich bewegt hat. Schauen Sie sich an, was da über den Mandelkern steht, und Sie werden sehen, dass er verkümmert war. Sie werden begreifen, dass der
Weitere Kostenlose Bücher