Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
gesamte Planet seinem eigenen Genozid entgegengeht.«
Sie presste die Lippen zusammen und fuhr dann fort:
» Es kann jeden treffen. Jeden. Das Syndrom E kann alle befallen, egal, in welchem Haus. Morgen vielleicht Sie oder Ihre Kinder, wer weiß?«
Dann schwieg sie, und die Polizisten führten sie ab.
Leise ging Lucie nach unten. Sie war erschöpft und hatte nur noch einen Wunsch: nach Hause zu gehen, ihre Töchter in die Arme zu schließen und zu schlafen. Sharko kauerte vor den Dutzenden von Augen, die ihn anstarrten und ihm lautlos ihr Leid entgegenschrien.
» Kommst du?«, flüsterte sie ihm zu. » Lass uns von hier verschwinden. Ich kann nicht mehr.«
Lange sah er sie an, ohne zu antworten. Schließlich erhob er sich mit einem tiefen Seufzer.
Sie waren bis zum bitteren Ende gegangen. Zum Ende des Horrors, auf eine Reise ohne Wiederkehr, die unvorstellbaren Wahnsinn offenbart hatte; den Wahnsinn einer Welt, die im Chaos lebte, der Herrschaft gewalttätiger Bilder unterworfen.
Oben auf der Treppe angekommen, schaltete Sharko das Licht aus. Die Augen von Mohamed Abane leuchteten kurz auf, ehe sie für immer in der Finsternis des Kellers erloschen.
Es war vorbei…
Epilog
Einen Monat später
Der Strand von Les Sables-d’Olonne erstreckte sich halbmondförmig und glitzernd in der Sonne. Die Augen hinter einer getönten Brille verborgen, beobachtete Lucie, wie Clara und Juliette mit ihren Schaufeln den feuchten Sand in Eimerchen schippten. Einige Möwen kreisten am Himmel, vom Ozean stieg ein beruhigendes Rauschen auf. Obwohl sich die Menschen dicht an dicht am Strand drängten, schienen alle glücklich zu sein.
Zum x-ten Mal wandte sich Lucie zum Deich um. Er musste jeden Augenblick kommen. Er, Franck Sharko, der Mann, der ihre Gedanken seit über einem Monat beschäftigte. Dessen Gesicht in ihrem Inneren leuchtete wie ein kleines Licht, das nie erlosch. Seit der Festnahme von Coline Quinat hatten sie sich nur drei Mal gesehen, Blitzreisen mit dem TGV für eine flüchtige Umarmung. Hingegen hatten sie fast jeden Abend telefoniert. Manchmal hatten sie sich nicht viel zu sagen gehabt, dann wieder stundenlang diskutiert. Ihre Beziehung entwickelte sich langsam und vorsichtig.
Obwohl sie versucht hatten, das Thema zu vermeiden, der letzte Fall würde ihnen unauslöschlich im Gedächtnis bleiben. In den Stunden nach ihrer Verhaftung hatte Coline Quinat ausgepackt: Namen von hochrangigen Militärs, von Angehörigen des Geheimdienstes, Politikern und Wissenschaftlern. Innerhalb des Gesundheitsdepartements der Armee war ein geheimes, zehn Meter unter der Erde verborgenes Forschungszentrum für Neurochirurgie eingerichtet worden, das sich ausschließlich mit dem Syndrom E und der tiefen Hirnstimulation beschäftigte. Dort wurden Versuchsprotokolle erstellt und ausgewertet und auch Operationen durchgeführt. Die Forscher würden nun einer nach dem anderen enttarnt werden. Die richterlichen Ermittlungen waren natürlich noch nicht abgeschlossen, und die Geheimhaltungsauflagen erleichterten die Dinge nicht, aber bald würden die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden. Normalerweise…
Lucie wandte sich wieder den Zwillingen zu, die in einer kleinen Meerlache saßen. Angesichts der vielen Menschen hatte sie ihnen befohlen, in ihrer Nähe zu bleiben, und so spielten die lachenden Mädchen nur wenige Meter von ihr entfernt. Ein Eimer und eine Schaufel reichten aus zum Glück. Die Zeit der Videospiele war vorbei, Lucie hatte alle Konsolen entfernt. Sie wollte ihre Töchter, so gut sie konnte, vor der Welt der Bilder, der ihnen innewohnenden Gewalttätigkeit und ihrer negativen Auswirkung schützen. Sich wieder den einfachen Dingen zuwenden, dem guten alten Spielzeug aus Holz oder auch aus Plastik, Bastelarbeiten. In gewisser Weise hatte Quinat recht gehabt. Die Welt zerstörte sich selbst.
In einer Woche wären die Ferien vorbei. Sie würden in ihre kleine Wohnung nach Lille zurückkehren, und sie würde nachdenken: über die Zukunft in einer Welt, die sich rasend schnell entwickelte. Lucie ließ den Sand durch ihre Finger rieseln und wiederholte sich erneut, dass sie ohne ihren Beruf als Kommissarin nicht leben, nicht glücklich werden würde. Ihr Job war in ihrem Körper verankert wie ein Gen. Er gab ihr ihre Identität, machte sie zu Lucie Henebelle. Aber sie wusste auch, dass sie sich zum Besseren verändern konnte– als Mutter und auch als Tochter. Sie war überzeugt davon, dass es ihr gelingen würde.
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