Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
holen.«
Lucie spürte, dass er am Ende seiner Kräfte war. Sie verabscheute es, Nahestehende und Freunde so verzweifelt zu erleben.
» Ich sehe ihn mir an.«
Er schüttelte den Kopf.
» Nein, nein. Ich will nicht, dass…«
» Dass ich auch blind werde? Kannst du mir erklären, wie einfache Bilder, die auf eine Leinwand projiziert werden, einen erblinden lassen können?«
Keine Antwort.
» Ist die Spule noch im Projektor?«
Nach kurzem Schweigen gab Ludovic nach.
» Ja, es bedarf nur einiger Handgriffe. Ich habe es dir schon gezeigt. Erinnerst du dich?«
» Ja, ich glaube, das war bei dem Film Im Zeichen des Bösen.«
» Touch of Evil von Orson Welles…«
Er seufzte. Tränen rannen über seine Wangen. Er deutete ins Leere.
» Meine Brieftasche muss auf dem Nachtkästchen liegen. Es sind auch Visitenkarten drin. Nimm die von Claude Poignet heraus. Er restauriert alte Filme, und ich möchte, dass du ihm die Rolle bringst. Er soll ihn sich anschauen, ja? Ich möchte wissen, woher der Streifen kommt. Nimm auch die Anzeige mit. Da stehen die Telefonnummer und Adresse von dem Sohn des Sammlers darauf. Luc Szpilman.«
» Und was soll ich damit machen?«
» Nimm sie mit. Nimm alles mit. Du willst mir helfen? Dann hilf mir, Lucie.«
Lucie unterdrückte einen Seufzer. Sie öffnete die Brieftasche und nahm die Karte und die Anzeige an sich.
» Ich hab’s.«
Das schien ihn zu beruhigen. Er hatte sich aufgesetzt, und seine Füße baumelten vom Bettrand.
» Und sonst, Lucie, wie geht es dir?«
» Wie immer… ständig neue Morde und Übergriffe. Arbeitslosigkeit wird es bei der Polizei so schnell nicht geben.«
» Ich meinte dich, nicht deinen Beruf.«
» Mich? Ach…«
» Vergiss es. Wir unterhalten uns später darüber.«
Er reichte ihr seinen Hausschlüssel und drückte ihre Hand. Lucie fröstelte, als sich sein Gesicht dem ihren näherte und seine ausdruckslosen Augen direkt auf die ihren gerichtet waren.
» Nimm dich vor dem Film in Acht.«
Kapitel 5
Nachmittag in Notre-Dame-de-Gravenchon. Eine hübsche Kleinstadt im Département Seine-Maritime. Nette Geschäfte, Ruhe, Grün und Felder, so weit das Auge reicht– vorausgesetzt, man schaute auf die richtige Seite. Denn im Südwesten, kaum einen Kilometer entfernt, wurde der Blick auf das Seine-Ufer von einer Art riesigem Stahlschiff versperrt, das grauen Rauch und Gasgestank in den farblosen Himmel spuckte.
Sharko schlug die Richtung ein, die ihm der Polizeibeamte gewiesen hatte, den er vor Ort treffen sollte. Auch wenn die Leichen bereits am Vortag ausgegraben worden waren – eine wahre Archäologenarbeit, die den ganzen Tag in Anspruch genommen hatte, um eventuelle Spuren nicht zu zerstören –, legte der Hauptkommissar Wert darauf, sich die Auffindungssituation persönlich anzusehen. Die dreistündige Fahrt, stets die blendende Sonne im Gesicht, hatte an seinen Nerven gezehrt, zumal er seit Jahren kaum mehr Auto fuhr.
Vor ihm ein Wegweiser. Er bog ab und fuhr mit geschlossenen Fenstern und eingeschalteter Klimaanlage durch das Industriegebiet von Port-Jérôme. Trotzdem war die Luft schwül und stank nach Metallpulver und Säure. Hier teilten, gut in der Natur versteckt, bekannte Firmen wie Total, Exxon, Mobil und Air Liquide untereinander die Reserven an Treibstoff, Heiz- und Motoröl auf. Der Kommissar fuhr gut zwei Kilometer durch das Meer von Schornsteinen, um schließlich in einen ruhigeren Sektor mit industriellem Brachland zu gelangen. Überall Reihen von stillstehenden Bulldozern. Er hielt etwas abseits von der Baustelle an, stieg aus und zog seinen Hemdkragen zurecht. Zum Teufel mit dem Jackett. Er ließ es mit seinem kleinen Rucksack, der das Nötige für eine Übernachtung enthielt, auf dem Beifahrersitz liegen. Draußen vertrat er sich kurz die Beine und machte ein paar Kniebeugen, die ein unangenehmes Knacken verursachten.
» Herrgott noch mal…«
Sharko setzte seine Sonnenbrille mit dem geklebten Bügel auf und sah sich um. Rechts von ihm die Seine, links eine Baumgruppe und dahinter die Industriebaustelle. Ein Eindruck von Leere und Verlassenheit. Weit und breit kein Haus, nur einsame Straßen und Brachland.
Weiter unten waren ein paar Männer mit Helmen in ein Gespräch vertieft. Zu ihren Füßen klaffte eine breite ockerfarbene Wunde im Boden, die sich über mehrere Kilometer am Flussufer entlangzog. Sie hörte genau da auf, wo die gelb-schwarzen Absperrbänder der Polizei leicht im Wind flatterten. Es roch nach warmem
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