Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Rouen hatte vermutlich mit der Nachbarschaftsbefragung begonnen und das Personal der Fabrik verhört– angesichts der Örtlichkeiten sicher ein recht hoffnungsloses Unterfangen.
Ein wenig abseits saß Lucas Poirier am Seine-Ufer und telefonierte– wahrscheinlich mit seiner Frau, um ihr zu sagen, dass er an diesem Abend später kommen würde. Bald würde er sie nicht einmal mehr informieren, die langen Abwesenheiten würden einfach zu seinem Beruf gehören. Und in einigen Jahren würde er begreifen, dass dieser Job vor allem bedeutete, allein mit seinen Dämonen zu leben. Drinks an einem schmutzigen Zinktresen zu nehmen und, wenn man nicht mehr weiterkonnte, seinen Hass herauszukotzen. Seufzend bedeutete Sharko ihm, dass er zurückfahren wollte. Sein junger Kollege beendete das Gespräch und kam angelaufen.
» Also, woher wussten Sie das mit den Zähnen?«
» Eine Vision. Vergessen Sie nicht, dass ich Profiler bin.«
» Das soll wohl ein Witz sein, Kommissar…«
Sharko bedachte ihn mit einem aufrichtigen Lächeln. Er liebte die Naivität dieser jungen Leute. Sie bewies, dass es in ihnen noch etwas Reines gab, ein Licht, welches man bei den alten Füchsen, die schon alles gesehen hatten, längst nicht mehr fand.
» Der Mörder hat seine Opfer entkleidet, er hat einen weichen, feuchten Boden in der Nähe eines Flusslaufs gewählt, um die Verwesung zu beschleunigen. Obwohl dieses abgelegene Terrain sicher nicht als Bauland ausgewiesen wird, hatte er Angst, man könnte sie finden. Darum hat er sie auch so tief vergraben. Bei all diesen Vorsichtsmaßnahmen wäre er bestimmt kaum das Risiko eingegangen, dass man die Opfer identifizieren kann. Heutzutage können Spezialisten Fingerabdrücke digital sogar noch an Mumien erfassen. Das wusste der Mörder vielleicht und hat brutal Vorsorge getroffen. Ohne Zähne und Hände bleiben die Toten anonym.«
» Vielleicht nicht ganz, man wird ihre DNA feststellen.«
» Die DNA … ja… wenn man daran glauben will.«
Sie stiegen in den Wagen, Sharko drehte den Zündschlüssel um und fuhr los.
» An wen muss ich mich wegen meines Hotelzimmers wenden? Ich weiß, dass ich mich wiederhole, aber ich will ein großes mit Badewanne.«
Kapitel 6
Ludovic Sénéchal wohnte hinter der Pferderennbahn von Marcq-en-Baroeul, einer Kleinstadt in unmittelbarer Nähe von Lille. Eine ruhige Gegend mit modernen Einfamilienhäusern aus Ziegelstein und einem Garten, so klein, dass man nicht den ganzen Samstag mit Rasenmähen verbringen musste. Mit einem leichten Lächeln hob Lucie den Blick zu dem Fenster im ersten Stock. Dahinter lag ein hübsches kleines Schlafzimmer, in dem sie sich zum ersten Mal geliebt hatten. Ein Meetic-Abend, wie er im Buche steht. Man trifft sich virtuell, dann real, man schläft miteinander, und dann sieht man weiter.
Sie hatte gesehen. Ludovic war in jeder Hinsicht ein guter Typ: ernsthaft, aufmerksam und mit vielen anderen positiven Eigenschaften versehen– doch es mangelte ihm eindeutig an Brillanz. Ein geregeltes Leben, Filme anschauen, eine ruhige Kugel bei der Krankenversicherung schieben und wieder Filme anschauen. Und noch dazu ein Hang zur Depression. Sie konnte ihn sich nicht als zukünftigen Vater für ihre Zwillinge vorstellen, als jemanden, der sie zu einem Ballettkurs ermutigen oder Fahrrad mit ihnen fahren würde.
Lucie schob den Schlüssel ins Schloss und stellte fest, dass die Tür nicht verriegelt war. Der Grund war leicht zu erraten: In seiner Panik hatte Ludovic alles stehen und liegen lassen. Sie trat ein und schloss hinter sich ab. Ein großes, schönes und modernes Haus, das den Platz bot, der ihr und ihren Töchtern fehlte. Eines Tages vielleicht…
Sie erinnerte sich an den Zugang zum Untergeschoss. Die Filmvorführungen mit Bier und selbst gemachtem Popcorn hatten etwas Unvergessliches und Zeitloses. Im Eingang entdeckte sie mehrere zerbrochene oder umgekippte Gegenstände. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sich Ludovic blind nach oben getastet und überall angestoßen hatte, ehe es ihm gelungen war, sie anzurufen.
Lucie ging die Stufen zum Privatkino hinab. Seit dem letzten Jahr hatte sich nichts verändert. Roter Plüsch an den Wänden, der Geruch nach alten Teppichen, eine Atmosphäre der Siebzigerjahre, die durchaus ihren Charme hatte. Vor ihr flimmerte die Leinwand im grellen Licht des Projektors. Lucie öffnete die Tür zu der kleinen Vorführkabine, in der die Xenonlampen glühende Hitze erzeugten. Das laute Surren der
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