Öland
mussten sie mit der Suche beginnen.
Lennart fuhr sehr langsam und hielt an jeder Bushaltestelle
und Parkbucht an, um nichts und niemanden zu übersehen.
»Man kann ja überhaupt nichts sehen«, murmelte Julia verzweifelt.
Nicht, dass es viel zu sehen gegeben hätte; kein Mensch
machte an diesem kalten und regnerischen Abend einen Spaziergang an der Landstraße. Sie sah nur dunkle Gräben und
Büsche und dahinter fahle Baumstämme.
Das Funkgerät rauschte erneut. Lennart hörte angespannt
zu.
»Der Hubschrauber nimmt Kurs auf Marnäs«, meldete er.
Julia nickte. Er war im Grunde ihre einzige Hoffnung.
»Sieht das Gerlof ähnlich?«, fragte Lennart nach einer Weile.
»Was denn?«
»Ich meine … ist er in letzter Zeit schon öfter, nun ja, unzurechnungsfähig gewesen?«
»Nein.« Julia schüttelte energisch den Kopf. »Aber so richtig
überraschen würde es mich auch nicht, wenn er einfach aus
dem Bus gestiegen und losgelaufen wäre. Ich glaube, er ist oft
sehr in seine Gedanken vertieft.«
»Wir finden ihn«, sagte Lennart leise.
Julia nickte.
»Er hatte heute früh seinen Wintermantel an. Damit kann
man es doch eine Weile aushalten, oder?«
»Mit Mantel übersteht er die ganze Nacht, vor allem wenn
er im Windschatten sitzt.«
Aber in der Alvar gibt es keinen Windschatten, schoss es
Julia durch den Kopf.
34
G erlof! Wo ist es, Gerlof?«
Langsam öffnete Gerlof, aus einem warmen, schönen Segeltraum gerissen, die Augen. Er blinzelte in den Regen.
»Wie bitte?«, fragte er mit heiserer Stimme.
Er lag auf dem Rücken am Strand, sein rechtes Bein
schmerzte.
Oben an der Dünenkante stand als großer Schatten vor
dem Abendhimmel in seiner hässlichen, gelben Jacke Gunnar Ljunger.
Stand er wirklich dort? Ja, es war kein Traum. Aber Ljunger
lachte nicht mehr.
»Wo ist mein Handy?«, schrie er.
Gerlof musste schlucken, sein Mund war wie ausgedörrt,
er konnte kaum sprechen.
»Das habe ich versteckt«, flüsterte er.
»Hast du jemanden angerufen?«, brüllte Ljunger.
Gerlof schüttelte den Kopf. So viele Knöpfe, er hatte nicht
gewusst, welchen er drücken sollte.
»Wo ist es? Hast du damit eine Sandburg gebaut?«
»Komm runter und such es, Gunnar«, zischte Gerlof.
Aber Ljunger blieb stehen, und Gerlof wusste, warum. Am
Strand würde er tiefe Spuren im Sand hinterlassen, die auch
der Regen nicht fortspülen können würde.
Das Handy lag in Gerlofs Hosentasche, was zwar kein besonderssoriginelles Versteck war, aber Ljunger zwang, sich
etwas auszudenken.
»Du bist wirklich ein harter Knochen, Gerlof«, sagte er und
streckte sich. »Aber ich sehe, dass du gestolpert bist.«
Gerlof hatte seine Stimme verloren. Er öffnete den Mund,
aber es kam kein Wort heraus.
» Und Frieden haben die Toten «, sang Ljunger mit leiser
Stimme. » Der Tod ist streng, aber ehrlich, drum sing heisa oh ja …
Das ist von Dan Andersson, wusstest du das? Ich liebe seine
Lieder, auch die alten Seemannsballaden von Evert Taube.
Vera Kant hat mir die alle vorgespielt, sie hatte viele dieser
alten Schellackplatten.«
»Sie hatte vor allem Land und Geld … Nur darum geht es
hier doch.«
Ljunger schüttelte bedeutungsvoll den Kopf.
»Es geht um eine Vielzahl von Dingen«, dozierte er. »Um
Land und Geld und Rache und Visionen … und um die Liebe
zu Öland. Wie ich schon sagte, ich liebe diese Insel.«
Gerlof sah, dass er aus seiner Jackentasche zwei Lederhandschuhe zog.
»Ich glaube, es wird jetzt Zeit für dich einzuschlafen, lieber
Gerlof«, sagte er feierlich. »Und wenn du das getan hast,
werde ich mir mein Handy holen. Du hättest es nicht einstecken sollen!«
Gerlof hatte keine Lust mehr auf Ljungers Phrasen. Hohles
Gerede. Er sollte ihn in Ruhe lassen.
»Es ist an der Zeit, Danke und Auf Wiedersehen zu sagen«,
hob Ljunger erneut an. »Ich glaube, wir sollten …«
Plötzlich verstummte er und sah sich um. Über dem Wasser ertönte ein schwaches Rauschen, das immer lauter wurde,
als würde sich ein Sturm zusammenbrauen.
Aus dem Rauschen wurde in kürzester Zeit ein ohrenbetäubendes Dröhnen, begleitet von einem kräftigen Wind, der
an Gerlofs Kleidern zerrte.
Ljunger starrte fassungslos in den Himmel.
Auch Gerlof sah in die Wolken, über ihm kreiste ein
Schatten.
Ein riesiger Körper mit blinkenden Augen schwebte über
dem Strand. Die obere Hälfte des laut ratternden Wesens
war dunkel, die untere, hell erleuchtet, trug
Weitere Kostenlose Bücher