Öland
Sie den Spaten fallen, Nils«, sagt Gunnar.
Er steht noch immer zu dicht hinter ihm.
Auch Martin steht zu nah und hebt plötzlich den Spaten.Nils weiß, dass Martin vorhat, ihn mit dem Schaft zu Boden zu schlagen, aber dazu ist es zu spät. Nils hat auch einen
Spaten, und der schwingt längst durch die Luft.
Beide Hände am Schaft, schlägt er so fest zu wie damals vor
dreißig Jahren, als er Lass-Jan mit dem Ruder getroffen hat.
Alte Wut kommt in ihm hoch, und seine Geduld ist wie ausgelöscht. Er hat so lange gewartet.
»Das ist meiner!«, schreit er.
Martin springt zur Seite, kann sich aber nicht mehr ducken. Das Spatenblatt trifft ihn erst an der linken Schulter
und dann am Ohr.
Martin stolpert, verliert das Gleichgewicht, Nils zielt erneut und schlägt noch einmal mindestens genauso hart zu
und trifft Martins Stirn.
»Nein!«
Martin brüllt vor Schmerz, taumelt und fällt rücklings auf
den Opferhügel.
Nils hebt ein letztes Mal den Spaten und zielt auf das ungeschützte Gesicht.
»Schluss jetzt!«, schreit Gunnar.
Martin hebt schützend seine Arme, Blut läuft ihm übers
Gesicht. Er wartet auf den tödlichen Schlag.
Aber Nils kann nicht zuschlagen.
»Hören Sie auf, Nils!«
Eine Hand hält seinen Schaft fest umklammert. Es ist Gunnars, der so fest daran reißt, dass Nils den Spaten loslassen
muss.
»Es reicht!«, zischt Gunnar mit scharfer Stimme. »Dieser
Streit war vollkommen unnötig. Wie geht es dir, Martin?«
»Ich, verdammt …«, flüstert Martin mit belegter Stimme,
die Arme noch immer zum Schutz über dem Kopf verschränkt. »Tu es endlich, Gunnar! Warte nicht länger… Tu es!«
»Es ist noch zu früh«, antwortet Gunnar.
»Ich gehe jetzt«, sagt Nils.
»Scheiß doch auf den Plan, lass es uns jetzt machen«, sagt
Martin. »Der Kerl ist doch vollkommen verrückt …«
Er versucht aufzustehen, aber Blut läuft ihm aus der Nase
und einer klaffenden Wunde auf der Stirn.
»Jemand muss den Schatz an sich genommen haben, ihr
oder jemand anderes«, sagt Nils und starrt Gunnar an. »Darum gilt unsere Abmachung nicht mehr.« Er holt tief Luft.
»Ich werde jetzt nach Hause gehen.«
»Okay …« Gunnar seufzt erschöpft, ohne Nils anzusehen.
»Keine Abmachung mehr. Dann können wir auch alles wieder einpacken.«
»Ich will jetzt gehen«, wiederholt Nils.
»Nein.«
»Doch. Ich gehe jetzt.«
»Sie werden nicht gehen. Es war nie vorgesehen, dass Sie
gehen. Verstehen Sie nicht? Sie werden hierbleiben.«
»Nein, ich werde gehen«, sagt Nils. »Hier wird es nicht enden.«
»Doch, das wird es, Sie sind ja schon tot.«
Gunnar hebt langsam den schweren Spaten und sieht sich
kurz um, als wolle er sichergehen, dass ihn wirklich niemand
sieht.
»Sie können nicht nach Hause, Nils«, wiederholt er. »Sie
sind schon tot. Sie liegen kalt und begraben auf dem Friedhof
von Marnäs.«
32
G erlof lag im Sterben, Tote tauchten vor seinem inneren
Auge auf. Sie machten Geräusche. Die Gebeine eines Kriegers
aus irgendeinem Kampf in der Bronzezeit klapperten am
Strand. Er schloss die Augen, um den Geist nicht tanzen zu
sehen, konnte das Rasseln jedoch deutlich hören.
Als er seine Augen wieder öffnete, sah er seinen Freund
Ernst mit blutiger Brust nach Steinen suchen.
Der Horizont war fast völlig in der Dunkelheit verschwunden.
Aber waren es wirklich Gebeine, die da rasselten, oder etwas anderes? Waren doch Menschen in der Nähe?
An einer winzigen Stelle in seinem gefühllosen Körper
hatte ein Funken Lebenswille überlebt, und Gerlof gelang es
tatsächlich, sich langsam aufzurichten. Es war wie das Hissen des Großsegels bei hartem Wind, schwer, aber nicht unmöglich. Er zählte laut.
Eins, zwei, drei, dann kam er auf die Knie.
Hauruck, flüsterte er und setzte seinen rechten Fuß auf.
Danach zwang er sich, kurz auszuruhen. Und mit einem
letzten Schwung kam er in den Stand.
Er hatte es geschafft. Eine Hand hielt sich am Baum fest,
die andere stützte sich auf den Stock.
Das Großsegel war gesetzt, jetzt musste der Frachter auf
die offene See gebracht werden.
»Hauruck«, murmelte er vor sich hin.
Er ließ den Apfelbaum los und machte einen kleinen
Schritt. Das ging überraschend gut, seine Gelenke waren wie
betäubt, er hatte keine Schmerzen.
Er lief an der Steinmauer entlang aufs Wasser zu, wo das
Gras niedriger war als auf der Wiese. Der Wind war sehr
kräftig, und das Knistern und Prasseln wurde immer lauter
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