Öland
Dann zog sie ihren Mantel über, stieg aus und atmete die
kühle Luft ein.
Es war nicht totenstill, denn der Wind heulte im trockenen
Laub der Bäume, und im Hintergrund hörte man das etwas
dumpfere Rauschen der Wellen am Strand. Ansonsten kein
Laut: keine Vögel, keine Stimmen, kein Verkehr.
Das Mädchen in der Bäckerei hatte recht gehabt: Man hatte
das Gefühl, ans Ende der Welt gefahren zu sein, in die Gebirgsregionen Nordschwedens.
Der Weg zu Gerlofs Häuschen war kurz und endete an einem schmiedeeisernen Tor in einer Steinmauer. Julia öffnete
das leise quietschende Tor. Sie ging in den Garten.
Das braun gestrichene kleine Haus mit weißen Kanten sah
nicht so verlassen aus wie die anderen Häuser in Stenvik.
Würde Gerlof allerdings noch darin wohnen, hätte er niemals zugelassen, dass das Gras so hoch wuchs oder Kiefernnadeln und Laub den Boden bedeckten. Ihr Vater hatte seine
Arbeit immer sehr genau genommen und still und systematisch geschuftet, bis alles erledigt war.
Sie waren ein hart arbeitendes Paar, er und Julias Mutter.
Besonders Ella, die ihr Leben lang Hausfrau geblieben war,
wirkte bisweilen wie eine Besucherin aus dem 19. Jahrhundert, aus einer armen Zeit, in der es auf der Insel weder Zeit
noch Kraft für Frohsinn oder Träume gab, als jedes Stück Küchenrolle getrocknet und mehrmals benutzt werden musste.
Ella war klein, schweigsam und verbissen gewesen, ihr Reich
war die Küche. Julia und Lena hatten ab und zu eine Ohrfeige
von ihr bekommen, umarmt wurden sie dagegen nie. Und
Gerlof war die meiste Zeit ihrer Kindheit auf See gewesen.
Im Garten war es vollkommen still. In Julias Kindheit hatte
auf dem Rasen eine grün gestrichene, meterhohe Wasserpumpe mit einem großen Hahn und einem schön geschwungenen Hebel gestanden. Aber die Pumpe gab es nicht mehr.
An ihrem Standort lag jetzt ein Abflussdeckel aus Beton.
Östlich des Häuschens war eine Steinmauer, dahinter
begann die Alvar. Sie reichte bis zum Horizont. Wenn die
Bäume dort nicht stehen würden, hätte Julia die Kirche von
Marnäs wie eine schwarze Pfeilspitze aufragen sehen können; dort war sie getauft worden.
Julia kehrte der Alvar den Rücken zu und betrachtete das
Häuschen. Sie umrundete ein Spalier mit wildem Wein und
stieg ein paar rosafarbene Kalksteinstufen hoch, die ihr als
Kind riesengroß erschienen waren. Die Stufen endeten auf einer kleinen Veranda mit einer Holztür.
Julia drückte den Griff herunter, aber die Tür war wie erwartet abgeschlossen.
Es war merkwürdig, dass es das Haus noch gab, fand Julia.
Es war so viel geschehen in der Welt, seit Jens verschwunden
war. Neue Länder waren entstanden, andere hatten aufgehört
zu existieren. Stenvik war den Großteil des Jahres wie leer gefegt von Einwohnern – doch dieses Haus, das Jens damals verlassen hatte, stand noch immer.
Julia setzte sich auf die Treppe und seufzte. Sie starrte auf
einen kleinen Steinhaufen, den Gerlof vor dem Haus aufgetürmt hatte. Obenauf lag ein zerfurchter, grauschwarzer
Stein, von dem er behauptet hatte, er sei wie eine zischende
Kugel vom Himmel gefallen und hätte damals einen Krater
in den Steinbruch geschlagen, als Gerlofs Vater und Großvater dort Ende des 19. Jahrhunderts gearbeitet hatten. Der
uralteBesucher aus dem Weltall war weiß gestreift von Vogeldreck.
Jens musste an jenem Tag an dem Stein aus dem Weltall
vorbeigegangen sein. Er hatte sich die Sandalen angezogen,
das Haus verlassen, in dem seine Oma schlief, und hatte die
Treppe in den Garten hinunter genommen. Das allein war
sicher. Wohin er dann gegangen war und warum, wusste
niemand.
Als sie am Abend vom Festland zurückkam, hatte sie erwartet, dass Jens auf sie zustürmte. Stattdessen warteten
zwei Polizisten, eine weinende Ella und ein wie betäubter
Gerlof mit zusammengebissenen Zähnen auf sie.
Julia hatte das Bedürfnis, eine Rotweinflasche zu holen, in
einem Zug zu leeren und sich in Träumen zu verlieren, bis
die Dunkelheit kam – aber sie bezwang den Impuls.
Kulissen. Der leere Garten wirkte wie eine Theaterkulisse,
wie dieses ganze Dorf, aber die letzten Szenen waren bereits
vor vielen Jahren gespielt worden und alle nach Hause gegangen.
Sie saß auf den Stufen, bis sich ein neues Geräusch in das
Rauschen des Meeres mischte. Ein Motor.
Es war ein altes und müdes Auto, das langsam die Hauptstraße entlangbrummte.
Doch das Geräusch verlor sich nicht in der
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