Öland
Ferne, sondern
blieb und näherte sich. Dann wurde der Motor in unmittelbarer Nähe des Gartens ausgemacht.
Julia stand auf, lehnte sich vor und erspähte durch die
Bäume ein verbeultes, buckliges Auto. Einen alten Volvo PV.
Das Gartentor quietschte, als es geöffnet wurde. Julia zog
ihren Mantel zurecht, fuhr sich unwillkürlich durch ihr helles Haar und wartete.
Die Schritte, die sich durch das tote Laub näherten, waren
kurz und schwer.
Kurz und schwer war auch der alte Mann, der schweigend
aufsie zukam, sich an den Fuß der Treppe stellte und Julia
grimmig ansah. Er erinnerte sie ein wenig an ihren Vater,
aber sie konnte nicht sagen, was an ihm, vielleicht lag es an
der Schirmmütze, der ausgebeulten Hose und dem elfenbeinfarbenen Wollpullover, die ihm ein glaubwürdiges Seemannsaussehen verliehen. Aber er war kleiner als Gerlof,
und der Stock, auf den er sich stützte, verdeutlichte, dass er
schon lange nicht mehr zur See fuhr. Seine Hände waren
schwarz gefleckt von alten und neuen Schrammen.
Julia erinnerte sich schwach, dass sie dem Mann vor vielen
Jahren schon einmal begegnet war. Er war einer der wenigen,
die das ganze Jahr über in Stenvik wohnten.
»Hallo«, sagte sie und verzog den Mund höflich zu einem
Lächeln.
»Guten Tag.«
Der Mann nahm seine Mütze ab, sodass Julia die grauen
Haarsträhnen sah, die in dünnen Streifen über den Schädel
gekämmt lagen.
»Ich habe nur mal vorbeigeschaut«, sagte sie.
»Ja, ja … Es muss ab und zu nach dem Rechten gesehen werden«, erwiderte er im breitesten Öländisch, das Julia je gehört hatte, einem kargen und dezenten Dialekt. »Er möchte
das so.«
Julia nickte.
»Es sieht gut aus.«
Sie schwiegen.
»Ich heiße Julia«, sagte sie und fügte mit einer schnellen
Kopfbewegung zum Haus hinzu: »Gerlof Davidssons Tochter.
Aus Göteborg.«
Der Alte nickte, als wäre es das Selbstverständlichste auf
der Welt.
»Ja, klar. Ich weiß«, sagte er. »Ich bin Ernst Adolfsson.
Wohne da drüben.« Er zeigte hinter sich, schräg nach Norden.
»Gerlof und ich kennen uns. Wir sprechen uns ab und zu.«
Jetzt erinnerte Julia sich. Das war Ernst, der Steinmetz. Er
war schon während ihrer Kindheit immer wie ein Museumsstück durch den Ort gelaufen.
»Ist der Steinbruch noch in Betrieb?«, fragte sie.
Ernst senkte seinen Blick und schüttelte den Kopf.
»Nee, da gibt es keine Arbeit mehr. Die Leute holen sich
manchmal noch was von der Schutthalde, aber es wird kein
neues Material mehr gewonnen.«
»Aber Sie arbeiten dort?«, fragte Julia weiter.
»Ich mache Kunst«, brummte Ernst. »Steinskulpturen. Sie
können gerne mal vorbeikommen und was kaufen … Heute
Abend geht es leider nicht, da bekomme ich Besuch, aber
morgen wäre in Ordnung.«
»Ja. Vielleicht mache ich das«, sagte Julia.
Sie hatte zwar kein Geld, sich etwas zu kaufen, aber die
Skulpturen ansehen würde sie sich schon gerne.
Ernst nickte und drehte sich mit kleinen schwankenden
Schritten langsam um. Julia begriff erst, dass das Gespräch
beendet war, als er ihr den Rücken zugedreht hatte. Sie aber
war noch nicht fertig und holte tief Luft:
»Ernst«, sagte sie, »Sie haben doch auch schon vor zwanzig
Jahren in Stenvik gewohnt, nicht wahr?«
Der Mann blieb stehen und drehte sich wieder zu ihr
um.
»Ich wohne hier seit fünfzig Jahren«, sagte er.
»Ich dachte nur, weil …«
Julia verstummte, sie hatte überhaupt nicht nachgedacht.
Sie wollte ihn etwas fragen, wusste aber nicht recht, was.
»Mein Kind ist damals verschwunden«, fuhr sie mit großer
Mühe fort, als würde sie sich für das Leid schämen. »Mein
Sohn Jens … Erinnern Sie sich?«
»Ja, natürlich.« Ernst nickte kurz, ohne Anteilnahme. »Wir
sind da noch dran. Ich und Gerlof, wir arbeiten daran.«
»Aber …«
»Wenn Sie Gerlof sehen, dann richten Sie ihm was aus«,
sagte Ernst.
»Was denn?«
»Sagen Sie ihm, dass der Daumen das Wichtigste ist. Nicht
die Hand.«
Julia starrte ihn an. Sie verstand nichts, aber Ernst fuhr
fort:
»Das wird sich alles klären. Es ist eine alte Geschichte, vom
Krieg noch … Aber es wird sich alles aufklären.«
Dann wandte er sich wieder ab.
»Krieg?«, rief Julia ihm hinterher. »Welcher Krieg?«
Aber Ernst Adolfsson ging weiter, ohne ihr zu antworten.
STENVIK, JUNI 1940
A ls der von Pferden gezogene Leiterwagen am Ufer zum letzten Mal entladen worden ist, wird er zum Steinbruch
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