Öland
aufsagen wie ein Kinderlied.
Es waren Orte, an denen sie all die Jahre immer nur vorbeigefahren war. Denn für ihre Eltern hatte es im Sommer nur
Stenvik und das Sommerhäuschen gegeben, das sie Ende der
Vierzigerjahredort gebaut hatten – viele Jahre bevor die Touristen den Ort für sich entdeckten. Herbst, Winter und Frühling lebten sie in Borgholm, aber Sommer war es für Julia
immer nur in Stenvik gewesen. Und ehe sie zu Gerlof nach
Marnäs hochfahren würde, wollte sie erst das Dorf wiedersehen. Sie verband schlechte Erinnerungen damit, aber auch
viele schöne. Die Erinnerung an lange, warme Sommertage.
Sie sah das gelbe Schild schon von Weitem: Stenvik 1 km
und darunter CAMPINGPLATZ, mit schwarzem Tape überklebt. Sie bremste und bog in die Zufahrtstraße ein, weg von
der Alvar, hinunter zum Sund.
Nach fünfhundert Metern tauchte die erste Feriensiedlung
auf; die Häuschen waren verriegelt, mit weißen, heruntergelassenen Rollos hinter den Fenstern. Dahinter kam der Kiosk,
der im Sommer der Treffpunkt für alle war. Seine Vorderseite
war befreit von allen Zeitschriftenplakaten, Reklamezetteln
und Fähnchen, die Fenster waren mit Holzläden verschlossen. Daneben stand ein Wegweiser, der zum Campingplatz
mit seiner Minigolfanlage zeigte, deren Bahnen mit grünen
Planen bedeckt waren. Der Campingplatz wurde von einem
Freund Gerlofs betrieben, erinnerte sie sich.
Die Hauptstraße führte zum Wasser, schwenkte nach
rechts und führte oberhalb des Strandes am Ufer entlang, wo
noch mehr verschlossene Sommerhäuser in einer schnurgeraden Reihe standen. Auf der anderen Seite lag der steinübersäte Strand, und kleine Wellen verzierten die Wasseroberfläche im Sund.
Julia fuhr langsam an der alten Windmühle vorbei, die
auf ihren drei dicken Holzbeinen ruhte. Seit Julia denken
konnte, stand die Mühle einsam und verlassen auf der
Klippe, knapp zehn Meter vom Strand entfernt. Allerdings
hatte sie im Laufe der Zeit ihre rote Farbe fast vollkommen
verloren und war ganz grau geworden. Von den Mühlenblättern war nur noch ein Kreuz mit morschen Streben erhalten.
Nur ein paar hundert Meter von der Mühle entfernt lag
Familie Davidssons Bootshaus. Es sah mit seinen roten Holzwänden, den weißen Fenstern und dem pechschwarzen Dach
sehr gepflegt aus. Jemand musste es vor Kurzem gestrichen
haben. Lena und Richard?
Julia erinnerte sich noch gut, wie ihr Vater im Sommer
immer vor dem Bootshaus auf einem Schemel gesessen und
seine langen Netze geflickt hatte, während sie mit Lena und
ihren Cousins und Cousinen am Strand umherlief und ihnen
der stechende Geruch von Teer in die Nase stieg.
Gerlof war auch an jenem entscheidenden Tag beim Bootshaus gewesen und hatte die Flundernetze gesäubert. Seither
hegte Julia eine große Abneigung gegen seine Fischerei.
Doch jetzt war keiner am Bootshaus. Trockenes Gras zitterte im Wind. Ein grünes, hölzernes Ruderboot lag neben
dem Haus – es war Gerlofs altes Boot, und der Rumpf war so
morsch, dass die Sonne ungehindert durch die obersten Planken scheinen konnte.
Sie stellte den Motor ab, stieg aber nicht aus. Sie trug weder
die passenden Schuhe noch die richtige Kleidung für den
öländischen Herbst, außerdem hatte sie den Querbalken am
Bootshaus gesehen, der mit einem großen Hängeschloss versehen war. Auch die Rollos waren wie bei allen anderen Häusern im Dorf heruntergelassen. Kulissen, das waren alles nur
Kulissen für ein Sommertheater.
Nun gut, sie wollte sich wenigstens noch Gerlofs Sommerhaus ansehen. Er hatte es selbst gebaut, auf altem Familiengrund. Sie startete den Motor und fuhr weiter auf der Hauptstraße, die sich gabelte. Sie nahm die rechte Abzweigung,
zurück ins Inselinnere. Hier gab es niedrige Haine zum
Schutz der wenigen im Winter bewohnten Häuser, aber alle
Bäume bogen sich vom Strand weg, niedergezwungen vom
ständigen Wind.
In einem großen Garten rechts von der Straße lag ein großesgelbes und sehr baufälliges Holzhaus. Die Farbe blätterte
von den Wänden, und die Dachziegel waren zersprungen
und moosbewachsen. Julia wusste nicht mehr, wem das Haus
gehörte, konnte sich aber auch nicht erinnern, den großen
Garten jemals in einem guten, gepflegten Zustand gesehen
zu haben.
Zwischen den Bäumen rechts verlief ein kleiner Weg,
schmal und mit einem Streifen aus kniehohem gelben Gras
in der Mitte. Julia erkannte die Einfahrt, bog ein und hielt.
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